Kleine Dämonen. Walther von Hollander. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Walther von Hollander
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711474617
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Untergang, Untergang, Untergang ... das enthalten diese zwei Jahre, wenn man sie summarisch ansieht. Aber inmitten des Untergangs lebten dennoch Menschen, liefen mit dem Hungertod um die Wette, mit dem Erfrierungstod, liefen vor dem Entsetzen davon oder saßen und ließen die Schicksalsschläge auf sich niederprasseln, wie die Steine geprasselt waren in den Fliegernächten damals, als noch die Sirenen heulten. Man war ja noch lange nicht entkommen, als der Krieg zu Ende war. Wir hatten es wohl verhältnismäßig gut in unserem Wallberg im Bayrischen Wald. Gut, solange wir abgeschnitten waren. Aber dann kamen die Nachrichten. Tessys Bruder wurde als Deserteur in Berlin an einen Laternenpfahl gehängt mit einem Pappschild auf der Brust: Ich bin ein Feigling. Den Vater Spernsers erwischte eine Kugel am Kurfürstendamm, als er sich Wasser holen wollte. Tiedemann wurde in der Kochstraße verhaftet, als er noch einmal in die Redaktion wollte, und niemand hat je wieder was von ihm gehört. Büschow, der immer so herrlich lachen konnte, starb gleich nach dem Einzug der Russen an einer Lungenentzündung. Gut für ihn, daß die Sieger nicht auch über die Toten gebieten können. Sonst hätte er es schlecht in seinem Grab. Und Wernicke ... ach, genug ... wenn man alles aufzählen wollte, man käme nicht zu Ende.

      Ich wollte auch nur sagen: Man saß, als die Nachrichten kamen, mit eingezogenem Kopf und wartete, ob die Nachricht kam, die einen erschlug. Aber unterdes lebte man doch. Der Sommer stieg an, verfärbte sich, die Nebel kamen. Wir liefen davon in die Städte. Wir dachten, dort würden sich die Lichter am ehesten entzünden. Aber es blieb dunkel. Nein — es wurde immer dunkler. Und jetzt sitzen wir nachtaus, nachtein ohne Strom und haben Zeit, nachzudenken oderzuschlafen. Aber der Schlaf flieht den, der zu schlafen gezwungen ist. Und nachdenken? Dem vergangenen Schrecklichen nachsinnen? Nein, lieber nicht. Uns stößt ja immer neues Schreckliches zu. Die Lawine rutscht noch immer. Und wir stehn auf ihr und rutschen mit. Der Steinschlag rasselt noch um uns, und bald wird der zu Tode getroffen, bald jener verwundet. Immer noch.

      Dabei ist eines herausgekommen: Man vergißt sehr schnell. Anscheinend kann das menschliche Gedächtnis nur eine bestimmte Menge von Schrecknissen beherbergen. Die andern wirft es hinaus. Das mag grausam sein. Aber vielleicht ist es auch großartig. Denn man soll ja leben, solange man lebt, und wir lebten eigentlich ganz vergnügt. Das möchte ich wahrheitsgetreu schildern, so unverzerrt, wie es geht. Möglichst genau so, wie es war. Es ist allerdings eine Schwierigkeit dabei. Tessy stört mich. Gewiß: dadurch, daß sie kam, ist die ganze Geschichte erst wieder so lebendig geworden, daß ich sie aufschreiben kann. Aber auf der anderen Seite: die jetzige Tessy ist nicht mehr die Tessy aus Wallberg. Sie verschattet eher jene Tessy, als daß sie sie erhellt. Und außerdem: es sind gewisse Gereiztheiten zwischen uns unvermeidlich. Ich sehe die damalige Zeit natürlich anders an als sie. Und eine kleine, beiderseitige Zuneigung spielt auch verfälschend dazwischen: Wir hängen ja beide an jener Zeit, wir sind uns gegenseitig eine nette Erinnerung. Ich muß also gewissermaßen über die jetzige Tessy wegsehn, um die damaligen Erlebnisse richtig aufzuschreiben. Dazu muß ich notwendigerweise das erzählen, was sich zwischen Tessy und mir jetzt begibt. Es ist nicht viel und wird nicht viel. Aber gesagt werden muß es, damit man den Blickpunkt kennt, aus dem ich schreibe, und somit die Korrekturen selber vornehmen kann.

      In der vorigen Nacht geschah also folgendes. Nein ... es geschah gar nichts. Die Nacht verlief vielmehr folgendermaßen: Ich hatte Tessy meine kleine Kammer auf der andern Seite des Dachbodens zum Schlafen gegeben. Im Sommer ist es mein Schreibzimmer, sehr sonnig, aber wegen der Schrägfenster ohne andere Aussicht als auf den Himmel, mit seinem Wechsel von Blau, Gewölk und Gestirn. Auch den grünlichen Mond kann man vorbeispazieren sehn. Es ist die beste Aussicht, die man heutzutage haben kann. Denn da oben im Himmel gibt es keine Trümmer, wie sie jetzt mein Winterzimmer umstehn, rauchgeschwärzt, brandig, gezackt, langweilige Kulissen eines Dramas, das längst zu Ende ist. Drüben im Schreibzimmer steht ein wackliger Biedermeiertisch, ein Regal mit den letzten fünf Büchern, die ich gerettet habe, und den ersten zehn, die wieder erschienen sind. Viel haben mir alle fünfzehn nicht zu sagen. Dazu rumort innen noch zuviel, und vor den von andern geschriebenen Sätzen stehn die eigenen Schicksale in ihrem düsteren Brand, in ihrem Qualm kurz vor dem Erlöschen. Es scheint mir fast, als lösche dieser Qualm jedes Mitverständnis mit andern Schicksalen aus. Ich habe, ehrlich gesagt, seit einem Jahr nichts mit Anteilnahme gelesen. Darum ist es auch nicht merkwürdig, daß vor dem Bücherregal das samtene Sofa steht, hochlehnig und wie eine Niere geformt. Das war die Lagerstatt, die ich Tessy angeboten habe. Dazu zwei Wolldecken und meinen alten Mantel. Denn drüben ist es noch kälter als hier. Kein Ofen natürlich.

      Um zehn ging sie schlafen. Ich saß noch zwei Stunden, die Decke über den Knien. Zwei Pullover hatte ich an und meine alte Windjacke, dazu meinen roten Strickschal um den Hals. Trotzdem fror mich erbärmlich. In Wallberg hätten wir einfach in den Wald gehn können und Bruchholz holen. Man denkt jetzt: Eigentlich war es herrlich. Aber es war nicht herrlich. Es war alles verrückt und leer und ohne Verstand. Oder? Nun ... das werden wir sehn. Jedenfalls: ich machte mit klammen Fingern ein paar Notizen aus jener warmen Zeit und kroch dann in mein Eisbett. Merkwürdigerweise schlief ich gleich ein. Ich wachte gegen zwei Uhr davon auf, daß sich die Tür öffnete. Tessy kam herein. Ich tat, als schliefe ich weiter. Sie hatte ihre beiden Decken mit und meinen Mantel, dazu ihr Kopfkissen. Sie trug ihr langes Hauskleid mit den Blumen. Das hörte ich am Knistern der Seide. Sie legte zuerst ihre beiden Decken neben mich, schichtete den Mantel darüber und kroch dann in mein Bett.

      „Entschuldige“, sagte sie, „aber ich kann vor Kälte nicht schlafen.“

      „Du wirst dich daran gewöhnen müssen“, antwortete ich. Ich hörte, daß sie weinte, obwohl sie sich Mühe gab, nicht zu schluchzen. „Sei nicht albern“, sagte ich ärgerlich. „Ich muß morgen arbeiten, und da muß ich wenigstens nachts allein sein.“

      Sie schneuzte sich ausgiebig. Dann flüsterte sie: „Ich habe das alles nicht gemacht. Die Kälte nicht und alles andere, das Wohnungsamt und die Zuzugserlaubnis auch nicht.“

      „Warum bist du denn nicht in Wallberg geblieben?“

      „Ich wollte nicht sterben. Ich bin kein Roß an Empfindungslosigkeit wie Manuela.“

      Ich fühlte, wie sie vor Kälte immer noch zitterte. Vielleicht war es auch der Kummer. „Na komm“, sagte ich, „wenn du dir nichts einbildest ... und nicht empört und beleidigt bist, wenn ich mich nicht in dich verliebe, wie es meine Pflicht wäre, dann will ich dich aufwärmen.“

      „Wenn du dir nur nichts einbildest“, sagte sie empört, „verliebte Männer könnte ich gerade brauchen. Nein ...“ Damit kroch sie unter meine Decke und legte ihren Kopf vertrauensvoll auf meine Brust. „So ist es schön“, sagte sie und war gleich darauf eingeschlafen.

      Es war angenehm warm. Ich habe lange nicht so gut geschlafen. Sie war heute morgen sehr zutraulich und betulich, schmierte mir die Marmeladenbrote, fegte das Zimmer und ging dann eine Freundin suchen, die angeblich in Blankenese wohnen soll. Ich werde den Tag über allein sein und kann endlich beginnen.

      3

      Ich bin die letzten zwanzig Jahre Redakteur gewesen, teils aus Neigung, weil es mir Spaß macht, die verschiedensten Meinungen unter den Jochbogen einer einheitlichen Meinung zu biegen, teils aus einer angeborenen Trägheit. Denn bei aller Leidenschaft für das Wort und für den Gedanken der Vernunft scheint es mir weitaus bequemer, andere schreiben zu lassen, anderen die undankbare Aufgabe zu überlassen, ihre Gedanken zu schleifen. Es fördert das Selbstbewußtsein, wenn man dann hinterdrein nur mit dem Finger auf die ungeschliffenen Worte zu weisen braucht und ein Nachschleifen verlangen darf. Eine schmerzhafte Empfänglichkeit für reine, ungebrochene Sprachtöne, ein starkes kritisches Vermögen haben mich zu einem guten Redakteur gemacht. Aber während ich dies schreibe, stelle ich mit Bedauern fest, daß das Schreiben mir sehr schwer fällt. Die zwanzig Jahre lang geübte Kritik ist natürlich auch dem eigenen Wort gegenüber wach. Wenn ich aber das schreiben will, was ich mir vorgenommen habe, so darf ich nicht allzu wählerisch im Ausdruck sein. In einer gehobenen, prächtigen Prosa können die Meinungen und Taten der Menschen meiner Geschichte einfach nicht geschildert werden. Ich hasse es jedenfalls, einen leichtfertigen Swing als Sinfonie herauszuputzen.

      Aber das sind so Sorgen, die eigentlich jene Leser, die ich mir beim Schreiben vorstelle, gar nichts angehn. Ich kam auch