„Und wie ist er wieder herausgekommen?“ fragte ich. „Du weißt doch alles.“
„Weiß ich auch“, sagte Spernser. „Trenti hat es mir genau erzählt, mit weit aufgerissenen blanen Gräfinnenaugen, gläubig wie ein Kind. Ich habe schon vor Jahren geschrieben: Don Juan ist dumm. Er lernt aus keiner Erfahrung. Sonst könnte er ja nicht immer wieder von jeder Frau begeistert sein.“
„Ich möchte nicht wissen, was Spernser geschrieben hat“, sagte ich ungeduldig, „denn das weiß ich sowieso. Was erzählt Trenti?“
„Natürlich, daß Manuela ihn wieder herausgeholt hat“, brummte Spernser. „Er will jetzt nach Berlin zurück, um sie zu retten. Das wäre zumindest seine Dankespflicht. Er schwimmt in Rührung.“
„Und schläft mit Fräulein Schütze. Der eine ist des anderen wert. Und Spernser, der Frauenkenner, bekommt bei dieser Geschichte die Augen eines gerührten Hundes.“
„Lerne du erstmal Manuela kennen! Wenn du nicht sofort auf deinem moralischen Roß davonreitest, bist du verloren. Das sage ich dir.“
„Eine glutäugige Kastagnettenklapperin also, eine Männerfrühstückerin, eine Unwiderstehliche! Mann, Spernser, sowas habe ich schon mein Leben lang gesucht und nirgends gefunden. So eine, für die sich die Männer die Brillanten gegenseitig aus der Brusttasche reißen, bebend ungedeckte Schecks verschenken, Familien kalt pfeifend im Sumpf versinken lassen ...“
„Ja, so ähnlich“, sagte Spernser etwas spitz, „jedenfalls eins steht fest: Sie ist unserm Viktor Dreißig (so nannte er Vittorio Trenti zu dessen Wut immer) mindestens gewachsen. Bin gespannt, wie das ausgeht.“
„Aber das ist doch aus ... nach diesen Gemeinheiten ...“
„Gemeinheit schützt vor Liebe nicht“, lachte Spernser. „Die beiden kommen nicht voneinander los ... bis daß der Tod sie beide scheidt.“
Tatsächlich war Vittorio am nächsten Tag nach Berlin abgereist, angeblich um den neuernannten Verteidiger Berlins, der übrigens ein Bayer war, soweit ich mich erinnere, zu photographieren. Fräulein Schütze lief mit verquollenen Augen durch die Gänge unseres komischen Hotels, hockte nach Tisch mit Spernser in einer dunklen Ecke des Speisesaals und trank mit ihm eine halbe Flasche Orangenlikör, Trentis Spezialmarke, die sie aus seinem Kleiderschrank gestohlen hatte. Oder sagen wir besser: entnommen. Denn Trenti, äußerst schlampig in allen Angelegenheiten des äußeren Lebens, hatte ihr die Verwaltung aller seiner Angelegenheiten übertragen. Es war das, wie ich erst später erfuhr, eine Art von leichtsinniger, aber ritterlicher Kapitulation vor dem weiblichen Geschlecht. So sehr er die Fügung und Lösung seiner Freundschaften beherrschte, so sehr ließ er sich in den Dingen des Alltags von der jeweiligen Freundin beherrschen. Die Auslieferung aller Schlüssel an die Königin der Situation war so ein vertracktes Symbol für seine Unterwerfung unter das weibliche Geschlecht an sich. Aber da die Herrscherinnen sehr schnell zu wechseln pflegten, kann man sich denken, wieviel Verwirrungen dadurch in Vittorios Leben angerichtet wurden. Er pflegte übrigens allen Damen gegenüber kein Geheimnis aus dem Stande seiner Gefühle zu machen. Er schwärmte, wie er oft betonte, für Ehrlichkeit und Wahrheit. So hatte er auch, wie mir Spernser gleich danach mit vor Orangenlikör schwimmenden Augen berichtete, dem unglücklichen Fräulein Schütze mitgeteilt, daß er nach Berlin fahre, um Manuela „diesem SS-Knilch schleunigst abzuknöpfen“. Denn bei der Lage der Dinge sei ja diese Verbindung für sie äußerst gefährlich. Spernser und Fräulein Schütze waren am Ende der halben Flasche Orangenlikör zu dem Ergebnis gekommen, daß Vittorio schneidig und edelmütig zugleich handele. Die brave Schütze war am Abend vollständig betrunken. Da sie aber von ihrer ostpreußischen Heimat her gewohnt war, sich gut und gerade auf den Beinen zu halten, merkte man das nur an ihrer ungewöhnlichen Redseligkeit und der Hartnäckigkeis, mit der sie mir immer wieder versicherte, Vittorio werde Manuela zwar retten, weil er eben schneidig und edelmütig sei, aber er werde sie nicht einmal mehr mit dem Hintern angucken. Da sie diesen kräftigen Satz im Laufe des Abends etwa fünfzehnmal wiederholte, sehr zur Freude der Generaldirektorsfrauen Didi Seifert und Herma Zacke, und da der Orangenlikör unerschöpflich war, verlief dieser Abend in einer verschwimmend-eintönigen Langeweile. In den alkoholischen Nebel hinein brachte der kleine, glatzköpfige Direktor Kölle, der anscheinend in seinem Zimmer mit seinem Kofferapparat eifrig die feindlichen Sender abhörte, immer neue sensationelle Schreckensnachrichten. Die Amerikaner seien nur noch achtzig Kilometer von Koburg, die Russen hätten die Oder überschritten. Die telephonische Verbindung mit Berlin sei abgerissen, und schließlich sei ein Blitztelegramm des Verlages eingetroffen, das uns den Befehl gebe, uns in den nächsten Tagen weiter nach Süden abzusetzen.
Alle diese Nachrichten machten auf uns wenig Eindruck. Nicht nur des Orangenlikörs wegen waren wir von allen Verbindungen zu unserem früheren Leben losgelöst. Da wir unsere Zukunft nicht bestimmen konnten, da es unmöglich war, sich ein Bild davon zu machen, was nun kommen werde, waren wir auf eine bis dahin unvorstellbare Weise frei. Wir lebten so gegenwärtig wie kaum je zuvor oder nachher. Es gab für uns keine Wirklichkeit außerhalb der vierundzwanzig Quadratmeter unseres engen Gastzimmers, außerhalb der dunklen, verräucherten Lincrustawände dieses Honoratiorenstübchens mit dem schlecht gescheuerten Kneiptisch in der Mitte, den ungefügen, ungepflegten Ledersesseln, den klobigen Aschenbechern, die den Schnaps einer längst ausgebombten Berliner Schnapsfabrik dringend empfahlen, der kleinen Biertheke, hinter der vollmondgesichtig und verächtlich Herr Maiboom sich lümmelte, der Zapfknecht des Hotels, Zellenleiter und Inhaber des goldenen Parteiabzeichens, das er aufreizend genug immer noch auf seiner grünen Hausknechtsschürze trug — einer der wenigen getreuen Gefolgsmänner seines Führers. Keine Wirklichkeit, außer den sechs, sieben Gesichtern um den Tisch, lachenden, gierigen, hoffnungslosen Gesichtern, den blitzenden Ohrringen der hektischen Frau Zacke, der sanftschimmernden, kostbaren Perlenkette Didi Seiferts, an der sie mit spitzen, rotlackierten Fingernägeln herumfingerte, so, als würde sie sonst an ihrem Schmuck ersticken. Dazwischen immer wieder die Glatze Kölles und seine feisten, bleichen Hamsterbäckchen, die vor Nervosität vibrierten, die Katastrophenglatze, wie Spernser sie unehrerbietig nannte. Schließlich noch, durch unser Gelächter angelockt, Tellermann, der Matador der Berliner Lokalredakteure, der rüstige Sechziger, ehemaliger Meister im Schnellgehn, vielfacher Sieger im Gepäckmarsch rund um Berlin, ein Mann also, dem mit dem Untergang Berlins seine Existenz gewissermaßen doppelt genommen wurde und der als einziger unter uns noch von einer Wendung der Dinge im letzten Augenblick faselte. Dazu seine fünfundfünfzigjährige Sekretärin Bella van Zamen, aus unerfindlichen Gründen Häschen genannt, Herta Schröder, Spernsers Sekretärin, ein blaßblondes Nichts, das beim Lächeln einen Goldzahn entblößte, und Oskar von Willigrodt, mein Stellvertreter, achtundzwanzig Jahre alt, einarmig und einäugig, den leeren linken Ärmel seines Rockes mit fahrigen Bewegungen wie eine Vogelscheuche schwenkend und die leere, linke Augenhöhle hinter einem schwarzen Monokel verborgen.
Das also war das äußere Bild dieses letzten Koburger Abends. An Ereignissen ist lediglich zu verzeichnen, daß Maiboom, der Zapfknecht, den ziemlich betrunkenen Spernser wegen defaitistischer Reden stellte und mit einer Anzeige beim Ortsgruppenleiter drohte, ein paar Ohrfeigen bekam, hinausflog und von da ab hartnäckig immer wieder an der verschlossenen Tür polterte. Ferner, daß wir überflüssigerweise alle Brüderschaft tranken, wobei Herma Zacke an Willigrodts Brust gewissermaßen kleben blieb. Daß Spernser und Didi Seifert sich unter Tränen schworen, miteinander durch dick und dünn zu marschieren, wobei Didi immer wieder versicherte, nur häßliche Vögel seien treue Menschen. Das war dann wieder das Signal für Fräulein Schütze, über Vittorio zu sprechen, den kein Mensch außer ihr je verstanden habe, der wohl äußerlich nicht treu sei, aber innen von purem, treuestem Golde. Schneidig und edelmütig und edelmütig und schneidig, und ob irgend jemand von den Anwesenden etwa glaube, daß Vittorio jemals diese talentlose Tänzerin, diese Manuela, geliebt habe. Nein