Das Werk des Staatsministers. Bo Balderson. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bo Balderson
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9788711459683
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und sprachen eine herrschaftliche Sprache. Genau wie zuvor im Auto zwängte er sich ohne übertriebene Höflichkeit ins Sofa und ergatterte so den mittleren Platz – alle zankten sich ein bisschen –, nickte familiär Dozentin Klintestam zu und begann von einem sensationellen Fund zu erzählen, den man kürzlich beim Abriss einer der Villen in einem Stockholmer Vorort gemacht hatte: Unter dem Kellerfußboden hatte man acht blechbeschlagene Kisten entdeckt, mit deutschem Siegel versehen und offenbar mit Dokumenten gefüllt. Die Kisten waren in die Stahlkammer der Polizeibehörde gebracht worden, wo eine Stichprobe ergab, dass es sich um das Archiv einer Spionageorganisation der Nazis handelte. Die Angaben schienen äußerst detailgenau und umfassend zu sein. Das Material würde darum, schloss Västermark, außerordentliche und für die Zukunft wertvolle Einblicke liefern, wie die Agenten einer Großmacht während eines Krieges agierten: wie sie ihre Kontakte knüpften, wer ihnen möglicherweise Informationen geliefert haben könnte, wie die Verbindung mit der Heimat aufrechterhalten wurde und so weiter.

      »Und für so … so einen Quatsch haben Sie Zeit!«

      Ulrich Zander auf seinem Polster wirkte in der Tat aufgeregt.

      Mir war das sofort aufgefallen. Staatssekretär Zander und Generaldirektor Västermark waren nicht voneinander begeistert. Västermark merkte man es weniger an, er hatte sich zu sehr in sein Gerede gesteigert. Aber schon als Västermark zwischen den Erlen aufgetaucht war, hatte Zanders indianerhaftes Profil etwas Steifes und Abweisendes bekommen. Jetzt trat es noch deutlicher zutage: durch die Stimme. Sie war gepresst, feindlich, giftig.

      »Nicht zum Rumwühlen in alten Papieren ist die Polizeibehörde eingerichtet worden!« kam er gleich zur Sache. »Darum ist es das Sicherste, wenn Sie die Blechkisten einer wissenschaftlichen Institution übergeben, die über Zeit und Kompetenz in historischer Forschung verfügt.«

      Västermark nahm den Handschuh auf und schleuderte ihn mit der verbalen Kampfeslust eines alten Pressefuchses zurück.

      »Aus den Bestimmungen der Behörde geht eindeutig hervor, bestätigt von Seiner Königlichen Majestät, dass wir uns mit Archiven dieser Art zu befassen haben, Paragraph vier, Absatz eins bis vier. Ich werde Ihnen morgen mit der Post eine Kopie der Bestimmungen zukommen lassen. Ich habe vor, persönlich das gesamte Material zu sichten. Und ich kann Ihnen versichern, dass es mir nicht gänzlich an Erfahrung auf diesem Gebiet fehlt. Als ich meine Magisterarbeit über das Verhältnis Italiens zum Versailler Friedensvertrag schrieb, betrieb ich umfassende Archivforschungen und las Akten in allen drei großen Kultursprachen. Mein Professor schlug seinerzeit vor, ich sollte die Arbeit zu einer Doktorarbeit ausbauen, aber finanzielle Gründe hielten mich damals davon ab.«

      Ich notierte mir im Gedächtnis, dass ich den Staatsminister nach dem Grund fragen musste, warum die beiden Herren sich nicht grün waren. Uneinigkeit zwischen hohen Beamten ist immer ein interessantes Thema. (Meine Magisterarbeit trug den Titel »Zwistigkeiten im Regentschaftsrat Karls des XI.«.)

      »Für mich als Historikerin ist das eine sehr verlockende Sache«, meinte Dozentin Klintestam.

      »Das Material ist natürlich vertraulich«, fuhr Generaldirektor Västermark fort. »Aber nach und nach kann es in Teilen der Forschung … der traditionelleren Forschung zugänglich gemacht werden. Um selbst gleich die Durchsicht in Angriff nehmen zu können, habe ich, hm, Personalverstärkung angefordert.«

      Ich erkannte widerwillig und doch mit Bewunderung, dass selbst die Vergangenheit zur Begründung einer bürokratischen Anschwellung herangezogen werden konnte.

      An dieser Stelle knackte es von neuem zwischen den Erlen, und Doktor Lind kam über das Gras. In seinem kurzärmeligen weißen Trikot vermittelte der rundliche Arzt fast den Eindruck eines erwachsenen Babies. Das dralle Gesicht glühte schreiend rot zwischen den Koteletten und schwitzte, und unbekannte Leiden hatten das Haar zerzaust. Er war auf dem Weg zum Haus, entdeckte uns jedoch und änderte schnell seinen Kurs.

      Auch ihn zog es zu Västermark. Zuerst versuchte er an mir im Sofa vorbeizukommen, doch Västermark zog den Tisch zu sich heran und versperrte den Weg. Dann lehnte sich Doktor Lind keuchend vor und holte zu einem Kinnhaken aus, doch die Tischplatte war breit und Arvid Västermark dünn und gründlich gegen den Sofarücken gedrückt, so verfehlte der Schlag sein Ziel.

      »Unhold!« schrie er. »Verfluchter Unhold!«

      Ich kann nicht behaupten, ich wäre besonders erstaunt über das Verhalten gewesen. Ich habe hier auf Lindö schon sehr viel härtere Schläge als diesen eben erlebt. Und Herr Västermark hatte schließlich schon sein umfassendes Talent bewiesen, das Missfallen seiner Mitgäste zu erregen. Nein, was mich überraschte, war die Wortwahl. Das Wort »Unhold« hört man heutzutage nicht mehr oft.

      Frau Klintestam war aufgestanden und nahm Doktor Lind in die Arme.

      »Mein Lieber, was ist los? Kein Grund, gleich aus der Haut zu fahren!«

      Der Arzt schien sprechen zu wollen. Doch die Worte blieben ihm im Hals stecken, und es kam nur ein »Dieser … dieser …« heraus.

      Dann spuckte er vor dem Generaldirektor auf den Tisch und stolperte wieder zurück zum Strand.

      »Aber was ist nur in ihn gefahren?« fragten Dozentin Klintestam und der Staatsminister, der sich der Runde angeschlossen hatte, Gras abrupfte und trocknete, wie aus einem Munde.

      »Frauenärzte! Genauso hysterisch wie ihre Patientinnen!«

      Västermark schnaubte, schien aber nicht besonders aufgeregt. Er fuhr sich mit den Fingern durchs grauweiße Haar, über das Gesicht, die Falten und den Apparat auf dem Bauch. Ich dachte bei mir, dass ihm in seiner Zeit als Chefredakteur bestimmt der eine oder andere Abonnent mit lauter Stimme begegnet war …

      Es war fünf Uhr, und ich zog mich für eine kurze Ruhepause vor dem Abendessen in das Haus und in meine mit Platten verkleidete Suite zurück.

      Doch auf dem Weg traten mir Hindernisse in Form von Kindern in den Weg, die verlangten, ich solle mit ihnen Verstecken spielen.

      Es ist eine alte Tradition, dass ich am ersten Tag auf Lindö mit den Kindern Verstecken spiele. Wie die meisten Traditionen, die man in jüngeren und gesünderen Tagen ersonnen hat, werden sie mit jedem Jahr mehr zur Last. Aber wie dem auch sei, das Spiel stellt weder an Intellekt noch an Körperkraft große Ansprüche. Ich brauche nichts weiter zu tun als in einen Geräteschuppen zu gehen, die Hände vor die Augen zu halten (damit ich durch das Fenster nichts sehe) und bis hundert zu zählen. Dann werde ich die Tür öffnen und rufen: »Hundert! Jetzt komme ich!« und mich auf dem Grundstück in selbstgewählter Geschwindigkeit mal hierhin und mal dorthin begeben, bis ich ein Kind entdecke. Im Grunde ist es eine angenehme Zeit, eine der besten auf Lindö. Der Sinn des Spieles ist auch, dass sich die Teilnehmer so lange wie möglich still verhalten und unsichtbar bleiben. Für kurze Zeit kann man sich sogar einbilden, es gäbe auf der Insel gar keine Kinder. Kein Heulen, kein Lärm; leer hängen die Schaukeln der Kinder und alles ist Friede, alles ist von ruhigen Händen liebkost …

      Der Schuppen liegt hinter dem Gebüsch, das das Becken umgibt. Ich wurde von zwei begeisterten Bürschchen hingeführt.

      »Du musst versprechen, dass du die Hände vor die Augen hältst, wenn du zählst! Und dass du rufst, bevor du kommst!«

      Ich versprach es.

      Im Innern befinden sich hauptsächlich Möbel, Geräte und alter Plunder, wie in Schuppen auf dem Lande üblich. Ich muss zugeben, dass ich in meiner Einsamkeit weder zähle noch die Hände vor die Augen halte. Ich schaue stattdessen auf die Uhr, zwei Minuten reichen für gewöhnlich. Das Fenster ist im übrigen so schmutzig, dass ich keine unbefugten Beobachtungen machen könnte, selbst wenn ich wollte.

      Ich kannte mich noch von vorangegangenen Sommern aus. Da lag das alte Vogelbecken aus hässlichem, grauem Beton, da stand die Sonnenuhr, die nie ein Fundament bekommen hatte, da war die ausgestopfte Küstenseeschwalbe, die der Staatsminister vor vielen Jahren auf einer Auktion erstanden hatte …

      Aber jetzt war es bestimmt so weit.

      Ich öffnete die Tür und rief »Hundert!« und (nur etwas weniger verlogen): »Jetzt komme ich!« und