Kaum waren die beiden Jungen im Spielzimmer angelangt, so holte Heini seine Schularbeiten hervor. Mit Feuereifer fiel er darüber her. — — Aber zwischen Wollen und Vollbringen liegt ein weiter Weg. Ja, ja, mein lieber Heini, mit ein paar Stunden Aufmerksamkeit und etwas gutem Willen ist noch nichts weiter getan als ein winziges Ziegelsteinchen zum Bau deines stolzen Lebensgebäudes herbeigetragen; und wer weiss, ob es so stolz wird, wie du es dir in deinen Jugendträumen vorstellst?
Karl, der kleine Kerl, beugt sich über die Schulter des Kameraden, schaut interessiert in die Schulaufgaben hinein und sagt, die möchte er mal so zum Spass machen. — Na, na, denkt Hein Smidt im stillen, speel di man nich opp; aber nein, dieser Junge kann wirklich mehr als Brotessen. Er löst die geheimnisvollen Rechenaufgaben, als sei es gar nichts; er überträgt das Deutsche ins Englische, als sei es die einfachste Sache der Welt, und sagt dann obendrein, Heini möge nur nicht böse sein, dass er ihm so naseweis bei seinen Sachen gegangen sei, aber es habe ihm eine unbändige Freude bereitet.
Nein, Heini war nichts weniger als böse. Er schrieb ab, was der andere ausgerechnet und übersetzt hatte, und nun versuchte er, die Aufgaben aus eigener Kraft zu lösen. Es glückte nicht auf den ersten Hieb; aber er war zähe und unermüdlich, bis er die Sachen begriffen hatte und fehlerfrei beherrschte. Seine Achtung vor dem noch vor kurzem so überheblich über die Schulter angesehenen ‚Piepjochen’ stieg immer mehr; und wie taktvoll der Kleine war, es kam ihm gar nicht in den Sinn, sich mit seiner Überlegenheit zu brüsten. Ganz klein kam Heini sich vor.
Konnte das Leben wirklich so viele märchenhaft schöne Tage bringen, wie sie jetzt folgten? — Ach, die Familie Schmidt war ja seit Jahren nicht mehr vom Schicksal verwöhnt worden, und was andere Leute für sich als ihr gutes Recht beanspruchen zu können glaubten, wussten sie als eins köstliche Gabe zu schätzen.
Als Heini, von einer Zentnerlast befreit, mit seinen Schulaufgaben nach Hause kam, sah er gleich, dass auch dort etwas Gutes geschehen sein müsse. Mutter sang! O, wie lange war es her, dass er seine Mutter hatte singen hören! Und wie lustig es klang! Es mochten wohl einige verkehrte Töne dazwischen sein, auch gab es gewiss bessere Stimmen, aber was hatten diese Nebensächlichkeiten zu bedeuten gegen die Fröhlichkeit, die mit ihrem Gesang den Raum erfüllte?
Nachher kramte Vater in seiner Hosentasche, und heraus zog er ein feines Messer, das hatte eine grosse und eine kleine Klinge, und beide waren so blank, dass man sie fast als Spiegel benutzen konnte. Das bekam Heini geschenkt — — es war für die Mark gekauft, die er seinem Vater gegeben hatte. „Bewahre es gut auf als Erinnerung an den Tag, an dem ich wieder Arbeit gefunden habe!“ sagte Adje zu seinem Sohn.
Monate vergingen.
Heini und Karl sind längst unzertrennliche Freunde geworden. Treu und brav machen sie gemeinsam ihre Schulaufgaben. Sonderbar, früher waren solche Hein Smidt als ein Greuel erschienen, jetzt freute er sich darauf, weil er selbst spürte, wie es vorwärts ging. Karl stand ihm nach wie vor helfend zur Seite, aber immer seltener brauchte Heini ihn um Rat zu fragen. Allmählich kam er seinem Freunde an Kenntnissen immer näher, ohne allerdings zu ahnen, dass der alte Reeder sich laufend über seine Fortschritte unterrichten liess.
Stine, die kluge Frau, steckte ihrem Adje jeden Morgen zwei Groschen in die Tasche, die durfte und sollte er für Getränke anwenden, denn sie verstand sehr wohl, dass er sich nicht mit einem Schlage entwöhnen konnte, zudem sollte er auch eine kleine Freude haben; und dieser grosse Junge fühlte sich hiermit glücklich und zufrieden, denn wenn er nicht mehr Geld bei sich hatte, konnte er auch nicht mehr ausgeben. Nur Sonnabends machte er einen grossen Bogen um seine Stammkneipe, wenn er nämlich seinen Wochenlohn in der Tasche trug, denn den lieferte er bis auf den letzten Pfennig im Hause ab. Dafür stand dort aber auch eine Flasche Steinhäger auf dem Tisch, und er konnte sich dann auch einen extra erlauben. —
Adje selbst hatte es gewünscht, dass seine Frau die Verwaltung des Geldes in die Hand nähme, denn er wusste wohl, es sei dort am besten aufgehoben. Anfangs machte sie noch Kontore rein — die Flickarbeiten hatte sie gleich, nachdem ihr Mann in Stellung war, aufgegeben, — sobald er aber festen Fuss auf seinem Arbeitsplatz fasste, hatte er darauf gedrungen, dass sie sich künftig nur noch ihrer Häuslichkeit widmete. — — —
Heini hatte allmählich bessere Umgangsformen gewonnen und sich mehr und mehr von seinen Schulkameraden zurückgezogen. Anfangs hatten sich seine ‚Jakobiner’ grosse Mühe gegeben, ihn als Führer zurückzugewinnen. Dann hatten sich die ‚Semiolen’ ernstlich um seine Gunst beworben und ihm sogar die Häuptlingswürde angeboten, aber er hatte alles Verständnis dafür verloren, unter waschechten Revolutionären oder Rothäuten eine führende Rolle zu spielen, und lehnte die ehrenvollen Anträge glatt ab.
Er hielt sich völlig für sich, war freundlich und gefällig zu jedem, ging aber allen Annäherungsversuchen aus dem Wege. Erst glaubten alle, es sei eine Schrulle, die sich wieder legen würde; dann sahen sie aber zu ihrem Erstaunen, wie aus einem der schlechtesten Schüler im Laufe weniger Monate der beste ihrer Klasse wurde, und sie hielten ihn für einen Streber. Schliesslich kamen sie zu der Ansicht, er halte sich für etwas Feineres, als sie es seien, und es tat sich eine Kluft zwischen ihnen auf. Sie wurden ihm feindlich gesinnt und nannten ihn wieder voller Ironie ‚Käpp’n Smidt’, nachdem sie es einige Zeit unterlassen hatten.
Eines Tages pflanzten sich Thedje und Edje vor ihm auf und riefen laut und herausfordernd: „Guckt ihn Euch an; glaubt, was Besseres zu sein als wir, und bleibt doch sein ganzes Leben lang der Ableger von einem Hopfenmarktslöwen!“ Und alle in der Klasse brüllten vor Lachen.
Da schoss Heini das Blut zu Kopfe, und er antwortete: „Was Ihr über mich sagt, lässt mich kalt; aber meinen Vater lasst Ihr aus dem Spiel!“
Jungen drängten sich um die Zankenden, und Thedje, im Vertrauen auf die grosse Übermacht, erwiderte frech: „Glaubt am Ende noch ein Prinzensöhnchen zu sein; dabei kenn ich seinen Alten ganz genau; der ist die elendeste Schnapsnase von ganz Hamburg!“
Grosser Hallo und aufhetzende Zurufe waren das eine Ergebnis dieser Rede; das andere aber war, dass Thedje einen Fausthieb erhielt, der ihn drei Vorderzähne und erhebliches Nasenbluten kostete. Edje, der ihm zu Hilfe kommen wollte, landete im nächsten Augenblick ebenfalls auf dem Fussboden.
Die Jungen sahen, dass es hier bitterer Ernst wurde, und dass Heini in seiner blinden Wut zu allem fähig war. Er hatte sich auf seinen Widersacher geworfen, und seine wuchtigen Faustschläge sausten wie ein Trommelfeuer auf ihn hernieder. —
Mit Mühe und Not gelang es, den Rasenden von seinem Opfer zu trennen. Die Stimmung war für den Augenblick zu Heinis Gunsten umgeschlagen; und diejenigen, die erst am lautesten Beifall gebrüllt hatten, waren am ersten ernüchtert. Sie fanden es schön von Hein Smidt, dass er nichts auf seinen Vater kommen liess; im übrigen allerdings blieb ihre feindliche Stimmung gegen ‚Käpp’n Smidt’ bestehen.
Eines Tages ereignete sich eine besondere Begebenheit.
Marie Schult kam zu Besuch.
Sie war zwei Jahre jünger als die beiden Freunde, ein hübsches, etwas eigenwilliges Mädel, aber eine unterhaltende Gesellschafterin. —
Hei, das gab ein Leben im Hause! Für alle die schönen Dinge, die im Spielzimmer aufgestellt waren, zeigte sie kein Interesse, nicht einmal für einen soliden Eisenbahnzusammenstoss oder eine Schlacht mit ‚Piepmantjes’-Kanonen. Würfelspiele, wie das Affen- und das Gänsespiel, fanden schon eher Gnade vor ihren Augen, besonders als sie das erste Mal gewonnen hatte. Schliesslich setzten sich die Drei in eine Ecke und erzählten sich alles Mögliche. Ja, das war fein; so ein Mädel zwischen zwei Jungen war doch mal eine famose Abwechslung. Heini und Karl taten aber auch alles, um bei ihr in Gunst zu kommen.
Endlich musste Maria fort. Sie wohnte im Nachbarhause, und die beiden Freunde mussten ihr ‚auf Ehrenwort versprechen, sie am nächsten Montag zu besuchen. Das Versprechen gaben sie gern. Sie begleiteten den Gast, wie es sich für Kavaliere geziemt,