Er fuhr nach Berlin.
Sein einziger Bekannter dort war Arthur Bülow. Er suchte ihn auf, dreissig Pfennig in der Tasche. Er wusste sich eine gute Maske zu geben, so, als sei er nur eben mal zum Vergnügen herübergebummelt, nur, um sich anzusehen, was da los sei rund um die Gedächtniskirche. So nebenbei dann liess er die Bemerkung fallen, dass er sich von Berlin mehr verspreche als von Köln.
Bülow durchschaute die Sachlage. Aber er wurde nicht taktlos; denn eine Ahnung von Zukunft wehte ihn an.
„Wollen Sie bei mir boxen?“ fragte er.
„Wenn es sich lohnt, Mister“, antwortete Schmeling trocken.
Wortlos zückte Bülow einige Scheine und legte sie als Vorschuss auf den Tisch. Am Abend noch fuhren sie nach Lanke, einem Berliner Vordorf, wo noch das alte Trainingslager des früheren deutschen Leichtgewichtmeisters Naujoks bestand.
Max lebte auf, er kam schnell in glänzende Form, und schon einen Monat später stand er im Ring und zwang durch ein Dutzend mörderischer Niederschläge den Berliner Vongehr schon in der ersten Runde zur Aufgabe.
Bülow war zufrieden.
Ānny blickt über den Horizont
Die „Kristallprinzess“ hatte, wie schon gesagt, zehntausend Mark Herstellungskosten verschlungen. Anny zweifelte fast, wenn sie sich diese hohe Summe vorstellte. Doch als sie erfuhr, dass im gleichen Jahre als „Produktionsbudget“ der amerikanischen Paramount-Filmgesellschaft nicht weniger als zweiundzwanzig Millionen Dollar veranschlagt worden seien, beruhigte sie sich.
In Amerika hatte man längst erkannt, dass mit dem neuen Vergnügungsfaktor „Film“ eine Menge Geld zu verdienen sei. In San Franzisko war das erste richtige Filmtheater entstanden mit eigenem Orchester, und ebenfalls in Kalifornien wuchs zu Hollywood das grösste Filmatelier der Welt.
Grossfilme waren geschaffen worden, die abendfüllend waren wie wirkliche Bühnenstücke. Die neue Technik vermählte sich mit der Kunst, neue Regisseure wuchsen in diesem Fach, neue Autoren, neue Darsteller. Und die Namen derer, die von der stummen Leinwand zur Menge sprachen, leuchteten weiter, als je ein Bühnenstück geleuchtet hatte.
Denn der stumme Film erwies sich wie die Musik und mehr noch als die Musik von internationaler Wirksamkeit. Die Millardäre der Vereinigten Staaten hatten das Geschäft gerochen und legten Geld in Filmaktien an, wie sie es vordem in Öl, Kautschuk oder Konserven angelegt hatten. Mit ungeheurer Energie wurde der Umsatz betrieben und namentlich der Export. Schon im Jahre 1923 führte Deutschland 102 amerikanische Filme ein. 1925/26 aber waren es schon je 216 USA-Grossfilme, die die strenge deutsche Zensur zu passieren vermochten.
Hollywood war wie ein Polyp, der Sterne und Dollars an sich sog, aber auch Sterne und Dollars vervielfältigt wieder von sich gab. Der Bedarf an guten Kräften war nicht in Amerika allein zu decken, und vergessen war alles, was die Völker im Kriege in Leid und Hass getrennt hatte. Noch war der endgültige Friedensvertrag mit Amerika nicht unterschrieben, als schon die Filmindustrie die Fühler ausstreckte nach deutschen Schauspielern.
Kunst ist übervölkisch, das war das Schlagwort aller grossen Filmmanager.
Im Jahre 1926 ging so auch einer der bedeutendsten deutschen Schauspieler, Emil Jannings, nach Kalifornien. Er hatte sich mit Erfolg schon im Film versucht. Da war vor allem der Film „Varieté“ gewesen, der sein Gesicht dem breiten Publikum bekannt und liebenswert gemacht hatte. Seine Partnerin in diesem Film, Lya de Putti, war schon längst in Amerika. Nun folgte auch er dem lockenden Dollarruf und wurde dort bald und für längere Zeit der grösste und bestbezahlteste Filmdarsteller der Welt.
Der Weltkrieg war vergessen, aber seine Schrecken lebten neu auf im Film. Der Krieg war für manchen ein Geschäft gewesen, er wurde es neu durch die Kriegsgrossfilme, die jetzt modern wurden. Als Jannings in Neuyork landete, kam gerade der erste grosse Frontfilm heraus: „The big Parade“, der, obgleich noch kein Tonfilm, in wahrhaft aufwühlender und doch versöhnlicher Weise das Fronterlebnis dem Gedächtnis zurückbrachte, obschon zuviel Wert auf gutrasierte Typen gelegt war, um ihn noch eben salonfähig zu halten.
Und schon rüstete man sich in Hollywood, den ersten grossen Fliegerfilm zu drehen, richtig unter der Regie eines Frontfliegerleutnants (Wellmann). Er sollte „Wings“ (Flügel) heissen, und die einzige weibliche Rolle darin wurde von Clara Bow besetzt.
War es verwunderlich, dass auch Anny den Drang in die Ferne verspürte?
Hollywood war noch nicht unter den Ateliers, die sich um Anny bewarben, aber London war darunter, die „British International“, und auch London ist schon wie Übersee oder weite Welt, wenn man aus Prag kommt.
Gern hätte sie Lamač und Heller mit nach London genommen. Die Verhandlungen zogen sich hin. Man wollte sie allein haben.
Inzwischen war sie nach Berlin übergesiedelt, sie bezog eine reizende kleine Pension am Kurfürstendamm. Die riesigen Leuchtschilder der Kinoreklame schienen ihr keine so unerreichbaren Himmel mehr zu sein. Aber Lamač war wegen London nicht bei Stimmung. Was sollte sie machen? Sie schickte den Vertrag noch einmal zurück, stellte neue Bedingungen. Sie wartete, aber irgendwie musste sie doch Geld verdienen. Das Berliner Leben war teuer.
Somit willigte sie in das zufällige Angebot einer sozusagen bei Nacht und Nebel sich gründenden Gesellschaft, der „Contag“, und spielte die Hauptrolle in einem Manuskript, für das als Hauptverfasser Ludwig von Wohl zeichnete. Sie musste wieder einmal ein kleines Mädchen sein, sechzehnjährig, und Trude heissen, ein kleines Laufmädchen, das über allerlei unwahrscheinliche Fährnisse und Glückszufälle bis zur Gräfin aufsteigt.
Spielleiter war der gewandte Konrad Wiene und hatte einen richtigen „unbedingten Geschäftsfilm“ im Sinn. Er mixte alle gängigen Mittel der Publikumswirkung: Rührung, Humor, Eleganz, Dessous, Armeleute-Geruch und Parfüm. Aber über die Magerkeit der Erfindung half nur Annys Liebreiz hinweg.
Olga Tschechowa war ihre Partnerin, ein schon berühmter Name. Der Film wurde trotzdem kein rechter Erfolg.
Berlin, das war das Zauberkuchenhaus, aus dem Märchen von Hänsel und Gretel. Wie bald trat die Hexe vor die Tür, und das Böse glomm hinter ihren lockenden Worten. Wie bald konnte man eingepfercht sein in das enge Verlies der Tagesfron oder sass untätig und konnte sich nicht rühren und musste warten, warten. Mancher findet Hilfe und überlistet das Schicksal und kommt zu Freiheit und Gold, mancher wird abgebrüht wie ein Teufelsbraten, mancher wehrlos aufgezehrt.
Anny ging mit ihren zierlich hastigen Schritten die lange Zeile des Kurfürstendamms hinauf, gen Westen. Die Sonne fingerte in den stadtbraunen Augustbäumen. In der kühlen Luft, die aus den Wäldern der Mark wehte, lag ein Hauch fernen Föhrendufts und Duft von Wasser. Sie spürte es heraus. Es schien ihr, als sei sie zu Berlin dem Meer schon nahe, es machte ihr Herz unruhig, sie roch das Meer durch den kalten Benzinschwalch hindurch, der zwischen den Gehsteigen schleierte.
Der Contag-Film war keine Erfüllung gewesen. Er war kein Vorstoss, er war eine Schranke. Das Honorar zerschmolz. Das Meer verblasste. Ihr Mut sank. Die neuen Angebote schienen ihr wie Gebirge den geraden Weg zu sperren. Würde sie es schaffen?
Sie bekam plötzlich Furcht vor der weiten Welt. Sie sehnte sich nach Geborgenheit. Wie laut war dieses Berlin! Es faserte die Nerven heraus und behängte sie mit Schellen. Wieviel lauter würde London sein.
Eine Kollegin zwitscherte sie an. Auch so ein kleiner Funken in der Milchstrasse der vielen. Ob sie mit in den Lunapark wolle. Ein Sommerfest? I wo! Ein Boxkampf. Es gehe um die Meisterschaft im deutschen Halbschwergewicht.
Ach nein, lächelte Anny dankend. Ihr Herz war ihr so etwas wie Halbschwergewicht genug.
Von Prag lagen zwei Briefe in der Pension. Einer von ihrer Mutter. Wann sie sich denn einmal wieder blicken liesse. Aber es sei ja so still in Prag, das sei wohl nichts mehr für die kleine grosse Annily. Übrigens der schöne Fliederbaum