Der grosse Weltmeister musterte den Nachwuchsmann nicht ohne Erstaunen. Mir war, sagte er später, als sähe ich in einen Spiegel.
Man schlägt nicht gern auf sein Spiegelbild, und Dempsey schonte den jungen Sparringspartner, der ihm so ähnlich sah, mit augenscheinlichem Wohlwollen, drückte ihm nach dem kurzen Schaugefecht die Hand und äusserte in guter Laune, so wie man eine Nettigkeit hinzureden pflegt: Sie scheinen das Zeug zum Weltmeister zu haben, fellow!
Prophezeihungen sind oftmals keine Privatangelegenheit, und manche höfliche Bemerkung trägt ungewollt den Hornstoss des Schicksals in sich.
Das Trio zu Prag arbeitete fieberhaft. Lamač hatte ein Manuskript ergattert, das ihm verheissungsvoll dünkte. Auch Geld war vorhanden. Somit verliess man die wacklige Brauereischeune und begab sich in die böhmischen Wälder.
Der Film hiess: „Die Kristallprinzess“. Es handelte sich darin um ein Mädchen, das in einer üblen Schenke von früh bis spät Gläser waschen muss und keine Ahnung hat von der übrigen Welt. Aber dennoch weht die Liebe herein und blüht zart und kostbar auf zwischen Schnapsdunst und Fuhrmannsflüchen. Die beglückten Mädchenhände bauen ein Schloss aus leeren Gläsern, ein wirklich bemerkenswertes, lustiges und rührendes Kunststück. Aber eines Tages bricht das kleine flimmernde Gläserschloss zusammen und damit auch das Glück des kleinen Schenkenmädchens, der kleinen Kristallprinzess.
Es war nur ein Film, aber selten ist ein Film mit so viel Eifer, Liebe und Zukunftsglauben gedreht worden wie dort im Böhmerwald. Es war das Jahr 1924, da das kleine Gläserschloss der Kristallprinzess zusammenstürzte, das gleiche Jahr, in dem Deutschland begann, über die Scherben des Weltkrieges auf dem Beton der Dawes-Anleihe ein neues aufzubauen. Und das gleiche Jahr, in dem Schmeling „Professional“ wurde und zu ersten öffentlichen Erfolgen kam, was derzeit für das Vaterland ohne Wichtigkeit erschien und erst später dem deutschen Namen zu ungewöhnlicher Ehre gereichen sollte.
Die Aufnahmen der „Kristallprinzess“ dünken uns selbst für heutige Begriffe erstaunlich gut zu sein; immerhin beliefen sich die Unkosten derzeit auf siebzigtausend Kronen, gleich etwa zehntausend Reichsmark. Aber es lohnte sich, und der Satz: Steck viel hinein, kommt viel heraus! bewahrheitete sich hier, denn schon die Einnahme in der Tschechoslowakei belief sich auf das Doppelte.
Lamač war durch den Prager Erfolg ausserordentlich ermutigt, er kam auf den übermütigen Gedanken, die „Kristallprinzess“ in Deutschland anzubieten.
Anny lachte ihn aus, sie war schon einmal in Berlin gewesen, es war noch nicht lange her. Die Frau Direktor hatte ihr damals eine abscheuliche Perücke aufgestülpt, und sie hatte sich um zwei Jahre älter schminken müssen, und es sollte dort ein Grossfilm gedreht werden. Ein Atelier war extra dafür gemietet worden. Oh, Berlin! Man hatte im Tiergartenhotel gewohnt; denn noch war Inflation, und noch vermochte die tschechische Krone die Mark weidlich zu übertrumpfen.
Die Filmerei hatte nicht viel Spass gemacht, Anny hatte schon vergessen, um was es sich derzeit handelte, sie dachte nur noch an den Zoologischen Garten. Es hatte auch nur eine Woche gedauert, dann war es aus gewesen mit dem Berliner Atelier, und es hatte von da ab sehr lange gedauert, bis jemand wieder tschechische Filme finanzieren wollte.
„Nein“, sagte sie zu Lamac; „die Berliner sind verwöhnt!“
Grosse Namen leuchteten dort in den Himmeln der weissen Filmflächen und glühten unerhört, aus Sternen geformt, in Riesenlettern über den Eingängen der Kinopaläste: Mary Pickford, Erna Morena, Henny Porten, Liane Haid, Lya de Putti, Fern Andra, Lil Dagover, Olga Tschechowa, Pola Negri. Anny Ondra, das war noch kein Stern für Berlin, war noch kaum eine einzige Glühlampe wert, war noch eine sehr kleine Kerze, die Furcht haben musste, dass der kühle Spreewind sie unbarmherzig ausblase.
Aber Lamač liess sich nicht irre machen, er fuhr mit dem gutverpackten Streifen „Kristallprinzess“ nach Berlin. Ja, er war keck genug, ihn der Ufa anzubieten, und siehe da, der Film wurde nicht nur angesehen und gelobt, er wurde sogar gekauft, und das für eine recht erhebliche Summe.
Die Scherben der leeren Gläser hatten Glück gebracht, und mit Vergnügen konnte ein volles Glas darauf geleert werden.
Anny Ondra, das war ein neues Gesicht, das da hinter der düsteren Theke stand, so frischweg, ohne Perücke, ohne Mache, helläugig, unschuldsvoll lächelnd, aber mit dem Schalk um die kleine Nase, voll unvorhergesehener Einfälle, sehr jung, sehr heiter, sehr süss!
Ist es nicht reizvoll, zu wissen, dass übrigens auch Max gleich zu Anfang seines so selbständigen Ausfluges in die Welt gedachte, seine Zukunft womöglich aus Glas aufzubauen? Er fand auf seiner Arbeitsuche in Düsseldorf zufällig Beschäftigung in einer Glasfabrik, und in einem Riesenraum, mutterseelenallein, stapelte er treulich Glas auf Glas, einen Vormittag lang, bis er dann merkte, dass er unbewusst als Streikbrecher gearbeitet hatte. Da zerbrach dieses gläserne Zukunftsschloss, und seine Hände wandten sich dauerhafteren Baustoffen zu und wurden fähig, ihr Glück aus sich selber zu schaffen. Glück und Glas ... Ihm genügte eines Tages das Glück, das man im Kampf der Fäuste gewinnt, indem man das des Gegners zerbricht.
Er lernte inzwischen, dass nicht dauernde Anstrengung die Leistung steigert. Jedes Training muss vernünftig in Arbeit und Ruhe eingeteilt sein. Darum schlief er täglich nicht unter zehn bis elf Stunden (auch heute noch). Nikotin reizte ihn sowieso wenig, und die damals noch schwankende Ansicht über gelegentliche Auffrischung durch Alkohol entschied er für sich zugunsten einer völligen Enthaltsamkeit. Denn was Bierkonsum in seinem Beruf bedeuten konnte, hatte man an der allzu schnell versackten Laufbahn des Rheinländers Hans Wagener erlebt.
Noch verliess er sich ganz und gar auf seine Rechte, die sich schon oft so glänzend bewährt hatte. Die Linke benutzte er eigentlich nur, um den Gegner zu beschäftigen und aufs Glatteis zu führen, um ihn zu irgendeiner Blösse zu reizen, in die dann blitzartig die gefährlichere Rechte fahren konnte. Gelang das, so war meistens der Ausgang nicht mehr ungewiss, und Max konnte einen Sieg durch Niederschlag buchen.
In dieser Weise gewann er auch 1925 die ersten drei Kämpfe, zwei davon gegen gute belgische Boxer; aber von den übrigen sieben Gegnern dieses Jahres konnte er nur weitere drei nach Punkten erledigen, zwei Kämpfe blieben unentschieden, einen verlor er nach Punkten und einen musste er wegen hohen Fiebers in der zweiten Runde aufgeben.
Es waren beides Amerikaner und beides Neger, die ihm diese Niederlage bereiteten. Allerdings zu Boden gegangen war er nicht.
Für Max schien nun erstmal die Pechsträhne nicht abreissen zu wollen, auch im neuen Jahr nicht. Wohl war er in guter Form, aber die Gelegenheit blieb aus, und die funkelnden Ziffern der Championhonorare schienen blasser und blasser in die Weite zu rücken.
Nun starb auch sein Vater, und um seiner Pflicht, als Ältester für die Familie zu sorgen, besser genügen zu können, liess er Mutter und Schwester nach Köln kommen.
Er verlangte nach einem guten, ertragreichen Kampf. Abels, sein Manager, war auch eifrig dahinter her, da verlor der seine Frau und damit allen Schwung und zog sich mehr und mehr vom Boxsport zurück.
Max aber wurde in diesen Tagen hart. Er wollte sich durch keinen Tod als höchstens seinen eigenen unterkriegen lassen. Somit begab er sich unter die Fittiche eines neuen Promotors namens Willi Fuchs. Der Name schien ihm ein gutes Vorzeichen, hatte er doch einen Onkel in Neuyork, der so hiess, einen nicht unbegüterten Herrn. Aber der Kölner Fuchs vermochte ihm nur einen einzigen und nicht sehr wichtigen Kampf zu verschaffen, weil seine Zeit viel zu sehr von der Betreuung des deutschen Mittelgewichtsmeisters Hein Domgörgen in Anspruch genommen war, für dessen Training Max ihm gerade gut genug dünkte.
Max fühlte sich bald nicht mehr wohl in Köln. Aber wohin? Nach Berlin? Nach Berlin! Berlin, das war ein Begriff, den er bisher nur flüchtig gekostet hatte. Dort in der Zeitschrift „Boxsport“ hatten einst ein paar schmeichelhafte Bemerkungen über ihn gestanden, damals, als er kurz vor Weihnachten 1924 den Potsdamer Bullen Hartig schon in der ersten Runde zu Boden schmetterte. Der Chefredakteur Bülow hatte sich persönlich bei ihm in der Kabine sehen lassen und geäussert, Max möge ruhig zu ihm kommen, falls er mal was auf dem Herzen habe.