Schon früh am Morgen brannte die Sonne heiß vom nahezu wolkenlosen Himmel herab. Obwohl ich nur ein leichtes Leinenhemd und eine unterhalb der Knie abgeschnittene Hose trug, schwitzte ich.
Ich begann am Steuerbordschanzkleid mit der Arbeit und fierte mich langsam weiter ab. Gegen neun Uhr erhielten die Stückpforten des Hauptdecks einen neuen Anstrich. Die See war inzwischen noch ruhiger geworden und lag fast spiegelglatt vor uns.
„Segel Steuerbord voraus!“ hallte Dan O’Flynns Ausruf über Deck. Er stand in der Tonne am Großmast und hielt Ausguck. „Es ist eine Galeone auf Parallelkurs!“
Mir schossen Tränen in die Augen, als ich in die angegebene Richtung spähte, denn die Sonne blendete. Flüchtig fragte ich mich, wie der Navigator in dem Gleißen und Flimmern überhaupt etwas erkennen konnte.
„Das sind Portugiesen“, hörte ich den Seewolf sagen. Er stand gemeinsam mit Don Juan de Alcazar auf der Höhe des Besanmastes.
Der Spanier erwiderte: „Vermutlich haben sie uns noch nicht entdeckt. Ihr Ziel dürfte Karikal sein.“
„Entfernung acht bis neun Meilen!“ meldete Dan O’Flynn. Augenblicke später fügte er hinzu: „Das Schiff dreht ab, ich sehe es kaum noch.“
Ich widmete mich wieder meiner Arbeit. Die Farbe trocknete sofort auf den Planken. Drei Yards über mir führten der Seewolf und Señor Alcazar ihre Unterhaltung weiter. Sie sprachen über die Portugiesen, über das Gold des Maharadschas und schließlich auch über das Wetter.
Die Luft war mittlerweile zum Schneiden, im Südosten aufziehende Düsternis verhieß ein nahendes Gewitter, und tatsächlich war bald darauf ein fernes Grollen zu vernehmen.
Nach einer Weile wurde das Geräusch lauter. Aber das war kein Donnern, sondern eher ein dumpfes, anhaltendes Rumoren, das von überallher zu erklingen schien, sogar aus dem Wasser. Die Schwingungen übertrugen sich auf den Bootsmannsstuhl und ließen ihn ohne mein Zutun gegen den Schiffsrumpf stoßen, ja sogar die Schebecke zitterte plötzlich. Auf dem Wasser bildeten sich konzentrische Wellen, als hätte jemand einen Stein hineingeworfen. Aber das war natürlich Unsinn, denn ein solcher Stein hätte riesig sein müssen.
Ich hörte einige Arwenacks diskutieren. Sie sprachen von einem verheerenden Gewitter, das sich hinter der Kimm austobte. Schwül genug war es ja.
Während der Wind böig auffrischte, schleppte ich meinen zweiten Farbkübel an Deck. Vorübergehend entstand Schaum auf den Wellen, doch das Meer blieb weiterhin ungewöhnlich ruhig.
Die Gewitterwolke stand nahezu unverändert in Südost. Ich war überzeugt davon, daß sich dort über dem Indischen Ozean ein verheerendes Unwetter zusammenbraute.
Niemand warnte mich davor, das monotone Streichen außenbords fortzusetzen. Aber schließlich konnte keiner der Männer wissen, was das dumpfe Rumoren wirklich bedeutete, das wenig später abermals anhob.
Diesmal drang das Grollen aus der Tiefe des Meeres herauf. Die Dünung brach schlagartig zusammen und wich kabbeliger See.
Auf dem schwankenden Bootsmannsstuhl hatte ich Mühe, den Farbkübel festzuhalten. Fasziniert und entsetzt zugleich, starrte ich nach achtern, unfähig zu begreifen, was sich in Gedankenschnelle abspielte.
Wenige Meilen hinter der Schebecke schäumte und brodelte die See von einem Augenblick zum anderen – wie in einem Kochtopf, in dem das Wasser zu sieden beginnt. Oder noch besser: wie die Fontänen, die schlecht gezielte Kanonenkugeln aus der See stanzen.
Eine unheimliche Wasserwand baute sich auf – gigantisch, furchterregend, tödlich.
Turmhoch wuchs die Mauer hoch, das Grollen steigerte sich zum infernalischen Lärm.
Ich hörte den Seewolf Befehle brüllen, aber ich war unfähig, aufzuentern. Ich konnte den Blick nicht von der riesigen Welle lösen, die sich schäumend und tosend heranwälzte.
Der Kaventsmann war mächtig genug, um selbst ein Schiff wie die Schebecke zu zerschmettern.
„Clinton!“ Jemand brüllte aus Leibeskräften meinen Namen. Vielleicht war es der Profos, möglicherweise aber auch Mister Shane. Mehr verstand ich nicht.
Die Riesenwelle löste in mir ähnliche Empfindungen aus wie der starre Blick einer Schlange beim Kaninchen, das sich danach bereitwillig verschlingen läßt. Ich hatte von solchen extremen Einzelseen gehört, ihr Auftreten jedoch stets in das Reich überschäumender Phantasie verwiesen. Schließlich gab es viele Seeleute, die nur dann glücklich waren, wenn sie den Schiffsjungen gehörig Angst einjagen konnten.
Auf der Schebecke wurde Ruder gelegt. Die Arwenacks versuchten, dem Kaventsmann auszuweichen. Ich registrierte das aber nur am Rande.
Das dumpfe Grollen schien nicht mehr enden zu wollen. Selbst die Luft zitterte. Das Zentrum des Seebebens – der Begriff entstand ohne mein Zutun in meinen Gedanken – lag offenbar nur wenige Meilen hinter uns. Falls sich jetzt ein feuerspeiender Schlund auftat, war es um die Schebecke ohnehin geschehen.
Jäh wurde das Schiff nach Backbord gedrückt, danach neigte es sich ebenso rasend schnell zur anderen Seite. Der Bootsmannsstuhl pendelte frei über dem Wasser, ich verlor den Farbkübel, dessen Inhalt ich teilweise über mich ergoß, ließ den Pinsel fallen und klammerte mich an den Tauen fest.
Während die Schebecke von den Randwirbeln eines trichterförmigen Sogs gebeutelt wurde, der sich gurgelnd und schmatzend wie ein Tor zur Hölle öffnete, donnerte unaufhaltsam von achtern die gut zehn Yards hohe Wasserwand heran, schäumend und tosend und alles unter sich begrabend wie eine gewaltige Lawine.
Was mir an jenem verhängnisvollen Morgen im Oktober 1599 wie eine kleine Ewigkeit anmutete, währte in Wirklichkeit nur wenige Minuten. Ich empfand mehr Angst und Entsetzen als jemals zuvor. Heute sehe ich das alles mit anderen Augen und würde sicher auch anders reagieren, doch kann ich es mir keineswegs verübeln, daß ich mich hilfesuchend an ein Tau klammerte, statt aufzuentern, solange das noch möglich war.
Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel und gleich darauf, als die Riesenwelle weder abdrehte noch in sich zusammensank, ein zweites.
Mir erschien es, als wachse die See bis in den Himmel. Sie riß ein gigantisches, geiferndes Maul auf, um die Schebecke zu verschlingen. Schaum und Gischt erweckten tatsächlich den Eindruck riesiger Fangzähne, die sich alles zerstörend in die Planken des Schiffes bohren würden.
Viel zu langsam liefen die Arwenacks nach Backbord ab. Der Strudel unter dem Heck weitete sich aus und war erfüllt von lichtloser Schwärze, die meinen Blick wie magisch anzog.
Spring! hämmerte es verhängnisvoll in meinem Kopf. Laß dich einfach fallen! Nur in der Tiefe ist Sicherheit.
Schon hing ich nur mehr mit einem Arm am Stropp, der Bootsmannsstuhl neigte sich gefährlich weit über, als wolle er sich aufbäumen und mich abschütteln. Wild pochte das Herz gegen meine Rippen, ich spürte Übelkeit, die mir alles gleichgültig erscheinen ließ, und war mir dennoch irgendwie bewußt, daß ich dem nicht nachgeben durfte.
Heute glaube ich, daß ich trotz aller widersprüchlichen Empfindungen aus Leibeskräften schrie – bis der Kaventsmann die Schebecke einholte und wie ein welkes Blatt im Herbstwind herumwarf. Gischt und Schaum und gleich darauf eine erstickende Wasserflut schlugen über mir zusammen.
Ich verlor den Halt, krachte gegen die Planken des Schiffsrumpfs, schluckte Wasser, als mir der stechende Schmerz schier die Besinnung raubte, und hatte das Gefühl, rasend schnell in eine endlose Tiefe zu stürzen.
Das Salzwasser brannte in meinen Augen, in Mund und Nase. Wie durch einen dichter werdenden Schleier hindurch sah ich etwas Großes, Dunkles vorüberhuschen. Das mußte die Schebecke gewesen sein. Ich wurde abgetrieben, von der Woge mitgerissen, aber trotz aller Gleichgültigkeit, die mich umfing, wollte ich weiterleben. Ich durfte nicht aufgeben, nicht nach allem, was ich in den vergangenen Jahren schon durchgestanden hatte.
Das Gesicht meines Vaters – bärtig, wie ich es in Erinnerung bewahrt hatte – erschien vor meinem inneren Auge.