Der Tod steht auf der Schwelle - Skandinavien-Krimi. Kirsten Holst. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kirsten Holst
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Kriminalkommissar Høyer
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726569520
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in sein eigenes Büro, während Høyer sich wieder den Papieren auf seinem Schreibtisch zuwandte.

      Er hatte jeden Gedanken an den Indianer so nachdrücklich in den Hintergrund seines Bewusstseins verbannt, dass er ihn zuerst gar nicht erkannte, als er zu der vereinbarten Zeit in sein Büro geführt wurde. Er hatte sich aber auch verändert. Er war kräftiger geworden, rundlicher. Er musste mindestens zehn Kilo zugenommen haben, schätzte Høyer; und das dunkelbraune Haar war grau geworden.

      »Ist die echt?«, fragte Høyer, als ihm klar wurde, mit wem er es zu tun hatte. »Die Haarfarbe?«

      »Die Haarfarbe ist echt.« Der Indianer lächelte und entblößte eine Reihe weißer, regelmäßiger Zähne und Høyer spürte zu seiner Verblüffung das altbekannte Ziehen im Bauch, das er von früheren Zusammenkünften mit dem Indianer kannte.

      »Er ist der einzige Mann, der mich jemals zu der Überlegung veranlasst hat, ob eine minimale Veranlagung zur Homosexualität in mir steckt«, hatte er einmal zu seiner Frau gesagt. »Das ist schon sonderbar.«

      »Und zu welchem Resultat bist du gekommen?«, fragte sie neugierig, halb lächelnd, halb ernst.

      »Dass dem nicht so ist«, sagte Høyer. Im Gegensatz zu seiner Frau war er vollkommen ernst. »Er hat nur eine so verblüffende Ausstrahlung. Ich denke, Sexappeal ist nicht das richtige Wort, denn ich glaube, dass er auf beide Geschlechter wirkt. Aber Charme trifft es auch nicht, das ist zu wenig. Er ist etwas Besonderes und sieht unbestreitbar gut aus. Aber er hat viel von einem Blender. Er hatte auch immer nur in den ersten Minuten unserer Begegnungen diese Wirkung auf mich.«

      Und jetzt erlebte er es wieder.

      Der Indianer nahm ungeniert Platz. Der Beamte, der ihn hereingeführt hatte, sah verstohlen zu Høyer hin, doch als keine Reaktion von ihm kam, zog er sich auf einen Stuhl im hinteren Teil des Raumes zurück.

      »Darf ich rauchen?«, fragte der Indianer höflich, aber doch in einem Ton, der ahnen ließ, dass er keine negative Antwort erwartete. Er führte sich fast wie ein gut situierter Playboy auf, der dem Familienanwalt einen Besuch abstattete.

      »Ja bitte«, sagte Høyer und sah ihn an, während der Indianer eine Packung Zigaretten aus der Brusttasche seines schwarzen Hemdes holte.

      Schwarzes Hemd und schwarze Hose, stellte Høyer fest. Der Indianer trug zumindest Arbeitskleidung. Auch wenn über der Brusttasche diskret ein kleines Lacostekrokodil prangte.

      »Bei Høyer höchstpersönlich zu landen, das muss man sich einmal vorstellen«, sagte der Indianer. »Das hatte ich nicht erwartet. Nicht wegen so einer Bagatelle. Dann leben Sie also noch?«

      »Wie man sieht«, antwortete Høyer. So alt war er nun auch wieder nicht. »Genau wie Sie«, fuhr er fort. »Und wie ich sehe, sind Sie immer noch in Ihrem alten Metier tätig.« Høyer schüttelte resigniert den Kopf. »Ehrlich gesagt, hatte ich geglaubt, dass Sie klüger geworden sind. Wie alt sind Sie jetzt? Dreißig? Einunddreißig? Also fast erwachsen.«

      »Ja, aber Høyer, ich versichere Ihnen, dass das Ganze ein Missverständnis ist. Es war mein gutes Recht, mich in der Wohnung aufzuhalten. Eine Freundin von mir wohnt dort. Verdammt, ich hatte einen Schlüssel und alles.«

      Høyer lächelte schief. »Ich weiß nicht, was ›und alles‹ ist, aber das ist nicht das erste Mal, dass Sie im Besitz eines Schlüssels zu einer Wohnung sind, in der Sie nichts verloren haben.«

      Der Indianer hatte schon immer die Fähigkeit besessen, überzeugend zu klingen, dachte Høyer. Deswegen war er anfangs auch freigesprochen worden. Unter anderem deswegen, berichtigte er sich. Wahrscheinlich hatte es auch eine Rolle gespielt, dass niemand sich hatte vorstellen können, dass ein friedfertiger, begabter und sehr wohlhabender Gymnasiast sich als geschickter Einbrecher betätigte.

      »Hören Sie ...«, begann der andere.

      »Ich höre«, sagte Høyer. »Ich bin ganz Ohr. Ich warte darauf, etwas zu hören, was mich davon überzeugen kann, dass Sie ein Recht hatten, in der Wohnung zu sein. Aber ein Schlüssel reicht mir nicht«, schloss er und wedelte dem Indianer mit dem Zeigefinger vor dem Gesicht herum. »Sie müssen sich schon etwas Besseres einfallen lassen.«

      »Ich habe etwas Besseres. Ich habe diese Schwachköpfe – entschuldigen Sie den Ausdruck, Høyer, aber mal ganz ehrlich –, ich habe sie also gebeten, in meine Wohnung zu fahren und in den Briefkasten zu schauen, der an der Haustür angebracht ist. Da dürften Sie höchstwahrscheinlich einen Brief oder eine Karte von Grete Krag finden, die schwarz auf weiß beweist, dass sie mich erwartet hat.«

      »Sie erwartet?«, fragte Høyer. »Das klingt seltsam, da sie allem Anschein nach in Urlaub ist.«

      Der Indianer lächelte entwaffnend. »Ich habe mich offenbar schlecht ausgedrückt. Die Sache war so: Ich habe sie vor einiger Zeit angerufen und erzählt, dass ich möglicherweise ins Land käme und bei ihr vorbeischauen werde. Sie hat gesagt, dass sie sich über meinen Besuch freuen würde, sie dann aber vielleicht gerade im Urlaub sei. Sie wollte mit dem Auto nach Frankreich, wusste aber noch nicht genau, wann. Doch falls sie verreist sei, würde sie mir eine Nachricht in den Briefkasten werfen.«

      »Hm«, sagte Høyer und sah zu dem Polizisten hinüber, der bestätigend nickte. Ja, sie hatten einen Mann zu der Wohnung geschickt, um das zu überprüfen.

      Høyer griff nach dem Pass des Indianers, der vor ihm auf dem Tisch lag.

      »Wo kommen Sie jetzt her?«, fragte er.

      »Aus der Schweiz«, sagte der Indianer und sah Høyer leicht nervös an. »Ich lebe jetzt in der Schweiz.«

      »Sie reisen viel«, stellte Høyer fest, während er in dem Pass blätterte.

      »Natürlich. Dazu bin ich gezwungen. Geschäftsreisen.«

      »So, so, dann sind Sie also Geschäftsmann geworden. Das klingt gut, wenn es wahr ist.«

      »Das ist es. Schließlich habe ich eine Agentur geerbt. Das war der Brocken, den man mir hingeworfen hat, als die ganze Herrlichkeit aufgeteilt wurde. Vermutlich wollten sie mich aus dem Weg haben. Die Agentur ist in der Schweiz.«

      »Was verkaufen Sie?«, fragte Høyer. »Holland, Südafrika, Osteuropa, wie es aussieht, kommen Sie viel herum.«

      »Ich verkaufe Nähmaschinen«, sagte der Indianer und schnitt eine Grimasse. »Nähmaschinen, Elektronik und Lochmaschinen.«

      »Lochmaschinen?«, Høyer sah ihn fragend an.

      Der Indianer lachte. »Ja, Lochmaschinen.« Er schlug mit der flachen Hand auf den Locher, der auf dem Schreibtisch stand. »Die kommen ja schließlich auch irgendwoher, oder?«

      »Und die verkaufen Sie unter anderem nach Südafrika?«

      »Ja, vor allem Lochmaschinen«, erklärte der Indianer. »Aber mit denen kann man nicht handeln. Die wollen immer in Kohle bezahlen. Doch was zum Teufel soll ich mit einer Ladung Kohle? Können Sie sich mich als Kohlenhändler vorstellen? Das ist nicht unbedingt mein Stil.«

      Der Indianer lachte herzlich und Høyer musste unwillkürlich lächeln. Dann riss er sich zusammen.

      »Na schön, aber ich möchte jetzt diese kleine Sache hier aufgeklärt haben. Warum in aller Welt sind Sie nicht nach Hause in Ihre eigene Wohnung gefahren, bevor sie zu Grete Krag gefahren sind?«

      »Ich habe eigentlich damit gerechnet, dass sie zu Hause ist, und Sie wissen ja, wie das ist, in eine Wohnung nach Hause zu kommen, die mehrere Monate leer gestanden hat. Kalt, schmutzig, stickig und ein leerer Kühlschrank. Dazu hatte ich keine Lust, deshalb bin ich direkt zu Grete gefahren.«

      »Wie sind Sie in die Stadt gekommen?«

      »Mit dem Flugzeug«, sagte der Indianer und warf Høyer einen verwunderten Blick zu, als verstünde er die Frage nicht ganz.

      »Und wann sind Sie angekommen?«

      »Soweit ich mich erinnere, sind wir kurz nach sieben gelandet. Neunzehn Uhr zwanzig, glaube ich.«

      »Tststs«,