»Die Lieder von Bellman. Findest du nicht?«
»Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Im Grunde schenke ich den Worten nicht viel Bedeutung.«
»Da sieht man es wieder. Die armen Dichter. Er hätte sich die ganze Mühe sparen können, wenn seine schönen Worte doch nur als Stativ dienen, um eine Melodie daran aufzuhängen.«
»In der Tat«, sagte seine Frau. »Und jetzt denke ich, dass du wirklich dein Glas austrinken solltest. Dein Bett ruft nach dir.«
»Eigentlich eine Schande schlafen zu gehen«, sagte Høyer. »Das ist der erste Abend in diesem Jahr, an dem wir draußen sitzen können. Und vielleicht bleibt es auch der einzige.«
Nach einer Reihe elender Wochen mit bedecktem Himmel, Kälte und Wind war das Wetter an diesem Abend plötzlich umgeschlagen. Der Wind hatte sich gelegt und die Temperatur war gestiegen. Der Sommer hatte seinen Einzug gehalten und sich wie ein warmer, weicher Teppich über Stadt und Land gelegt.
»Wenn wir klug wären«, fuhr Høyer fort, »würden wir noch eine Flasche aufmachen und noch ein paar Stunden hier sitzen bleiben.«
»Aber leider müssen wir morgen arbeiten«, seufzte seine Frau. »Der Fehler ist, dass in diesem Land der Sommer fast nie auf einen Samstag fällt.«
»Der Fehler ist, dass wir zu alt und pflichtbewusst geworden sind, um den Augenblick zu genießen«, sagte Høyer. »Wären wir zwanzig, würden wir einfach sitzen bleiben.«
»Als wir zwanzig waren, konnten wir uns keinen Weißwein leisten«, wandte seine Frau ein. Sie trat hinter seinen Stuhl und beugte sich mit den Händen auf seinen Schultern über ihn. »Aber wir werden uns bestimmt an diesen Abend erinnern«, sagte sie. »Für den Rest des Sommers.«
Høyer stand auf und nahm sie in die Arme. »Für den Rest des Lebens«, sagte er. »Den Rest des Lebens. Das ist so ein Abend.«
Høyer hatte Recht. Das war so ein Abend und er sollte sich für den Rest seines Lebens daran erinnern.
Die alte Kamma Greve schloss das Buch mit einem Seufzer und legte es auf die leere Hälfte des Doppelbetts. Dann schob sie ihr Kissen zurecht, lehnte sich gegen das Kopfende und atmete tief ein.
»Wie das duftet«, sagte sie zu sich selbst.
Das Klappfenster stand offen und der Duft des Geißblatts erreichte sie wie kleine, sanfte Atemzüge. Plötzlich begann draußen im Garten eine Drossel zu singen. Meine Nachtdrossel, nannte sie sie. Sie sang immer um diese Zeit, lange nach Einbruch der Dunkelheit und nachdem alle anderen Vögel zur Ruhe gekommen waren. Und das würde sie bis weit in den Juli hinein tun. Manchmal bildete sie sich ein, dass der Vogel nur für sie sang. Solange sie zurückdenken konnte, hatte eine Drossel in der Dornenhecke gewohnt, aber vermutlich war es nicht immer dieselbe gewesen. Vielleicht war es eine Ururururururenkelin der allerersten Drossel, die sie gehört hatte, als sie in dieses Haus gezogen waren.
Sie faltete die Hände über der Bettdecke und ging in Gedanken den Tag durch. Das war zu einem festen Ritual geworden. Ein Zeichen, dass sie alt war. Jeden Abend musste reiner Tisch gemacht werden, man wusste schließlich nicht, ob man am nächsten Morgen noch einmal erwachte.
Der Hund lag dicht bei ihr auf dem Läufer neben dem Bett. Im Moment atmete er tief und ruhig, aber zuweilen holte er stoßweise Luft, fuhr mit den Beinen Rad und fiepte leicht im Schlaf. Sie ging davon aus, dass er träumte. Auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, wovon ein Hund träumte.
Es war ein guter Tag gewesen, stellte sie fest. Und lächelte unwillkürlich über sich selbst, weil sie jeden Abend zu diesem Fazit kam. Jeder Tag brachte neue Gebrechen, neue Probleme, neue Zeichen, dass sie immer älter wurde, und jeden Abend stellte sie trotzdem fest, dass es ein guter Tag gewesen war. In ihrem Alter genügte es vermutlich zu überleben, um von einem guten Tag zu sprechen, dachte sie. Sie würde noch wie diese schreckliche Person in dem Stück von Becker enden. Wie hieß sie doch gleich? Bodil Udsen hatte die Rolle gespielt, aber wie hieß sie? Fanny? Nein, nicht Fanny. Mary? Nein, Mary auch nicht.
Die alte Dame lag mit geschlossenen Augen da und versuchte, sich an den Namen zu erinnern. Irritierend, wie die Namen eine Tendenz entwickelt hatten zu verschwinden. Winnie, dachte sie plötzlich triumphierend und machte die Augen auf. Es war jedes Mal ein Triumph, wenn sie ihr schlechtes Gedächtnis besiegte.
Ja, es war ein guter Tag gewesen, dachte sie noch einmal, fühlte jedoch gleichzeitig, wie ein kleines Unbehagen sich tief in ihrem Inneren zu regen begann. Die Andeutung eines schlechten Gewissens. Sie hatte es eigentlich erfolgreich verdrängt, aber das mit dem Namen hatte sie wieder daran erinnert.
Natürlich war das Fanny gewesen, die angerufen hatte, und natürlich hätte sie abnehmen sollen, aber sie hatte gerade Radio gehört, die letzten Minuten des Abendfeuilletons, und die hatte sie nicht verpassen wollen. Außerdem wusste sie, dass es Fanny war. Ihre Schwägerin war die Einzige, die so spät noch anrief, und ihr zuzuhören war bei Gott nicht aufbauend.
Aber sie hätte trotzdem ans Telefon gehen sollen. Oder später zurückrufen, als die Sendung vorbei war. Sie hätte sagen können, dass sie im Bad gewesen war, als der Anruf kam. Vielleicht war Fanny unruhig geworden. Sie malte immer den Teufel an die Wand und hatte das Telefon wirklich lange klingeln lassen, bevor sie aufgelegt hatte.
Die alte Kamma Greve lachte lautlos. Fanny sollte nur wissen, dass sie die Kaffeemütze über das Telefon gestülpt hatte. In Gedanken sah sie Fanny unter der Kaffeemütze sitzen und plappern. Im Grunde genommen war der Gedanke lustig, auch wenn er nicht besonders nett war.
Außerdem war es albern, ein schlechtes Gewissen zu haben, nur weil man einmal nicht ans Telefon gegangen war. Es hatte schon eine sonderbare Macht über einen. Man kam sich wie ein Drückeberger vor, wenn man nicht dranging. Na schön, dann hatte sie sich eben gedrückt, geschehen war geschehen, und wenn Fanny morgen anrief, musste sie so tun, als sei sie wirklich im Bad gewesen.
Also doch ein guter Tag.
Sie hatte wieder einmal überlebt.
Aus irgendeinem merkwürdigen Grund hing sie noch immer an ihrem Leben.
Sie und der Hund mussten den Laut gleichzeitig gehört haben.
Er richtete sich auf, hob den Kopf und stupste ihre Hand an, während er leise knurrte.
Sie lauschte. Jetzt war es fast vollkommen still, sie hörte nur die Drossel und das schwache Rascheln aus dem Garten, aber da war etwas gewesen. Ein Laut. Hier im Haus. In einem alten Haus gab es immer viele Geräusche, knarrende Böden, seufzende Wände, aber das war keiner der gewohnten Laute gewesen. Das war eine Tür, die irgendwo ging. Fast, aber nicht ganz lautlos. Und ihrem Gehör zumindest fehlte es an nichts. Ganz im Gegenteil.
Wieder knurrte der Hund.
»Ssst«, flüsterte sie und legte ihm die Hand auf den Kopf, während sie in das Dunkel lauschte.
Sie fühlte mehr, als sie hörte, dass oben jemand herumging. Und das war definitiv nicht Grete Krag. Zum einen war sie in Urlaub und zum anderen trat sie anders und kräftiger auf, wenn sie ging. Die jungen Frauen heute traten so hart auf, dachte Kamma Greve bedauernd. So unschön. Nein, Grete Krag war das nicht. Sie würde sich nicht mitten im Urlaub nachts nach Hause schleichen. Sie umgab immer ein gewisser Lärmpegel.
Aber wenn sie das nicht war, dann ...
Jetzt war es wieder still. Das Dunkel schloss sich um sich selbst. Vielleicht hatte sie sich doch geirrt, aber der Hund hatte auch etwas gehört.
Sie strengte ihr Gehör an.
Und dann hörte sie es.
Das Geräusch einer Schublade, die herausgezogen wurde.
Sie erkannte das Geräusch. Das war Grete Krags Schreibtischschublade. Sie war einfach hoffnungslos. Sie hakte und man musste daran rütteln und ziehen, obwohl Grete Krag es mit Stearin und Bohnerwachs und Sandpapier versucht hatte.
»Und