„Und die Schwimmweste, die ich auf deinen Befehl hin im Sturm immer anziehen muß, hält die mich wirklich über Wasser?“
„Nicht nur das, sie hält dich zusätzlich noch warm. Auch die Kleidung soll ein Schiffbrüchiger im Wasser nach Möglichkeit immer anbehalten; sie schützt ihn vor Unterkühlung, egal, ob er in nördlichen oder in tropischen Gewässern treibt. Übrigens rettete sich der amerikanische Flieger Carroum auf eine pazifische Insel, nachdem er über drei Tage in seiner Schwimmweste gehangen hatte.“
Viele Segler plädieren für eine Sicherheitsleine, durch die sie während ihrer Wache mit der Yacht verbunden sind. Ich kenne keinen Einhandsegler, der sie auf seiner Ozeanüberquerung benutzt hätte, weiß aber von einem Fall, in dem ein deutscher Arzt trotz der Sicherheitsleine in der Nordsee über Bord gerissen wurde, und seine beiden Kameraden brachten es nicht fertig, ihn aus seiner furchtbaren Lage zu befreien.
Wir hatten uns auf der LIBERIA um das Cockpit eine Griffleiste anbringen lassen, an der wir uns bei Sturm mit einer Hand festhielten, während wir mit der anderen die Pinne4 bedienten. Daher auch der Name „Einhandsegler“; ein Alleinsegler kann nur mit einer Hand das Boot bedienen, weil er mit der anderen für seine Sicherheit sorgen muß.
„Mann über Bord“ wird immer ein Schreckensruf bleiben, doch sollte man sich daran erinnern, daß viele Seeleute noch aus den verzweifeltsten Situationen gerettet worden sind.
Werden Fische seekrank?
Bei diesem scheußlichen Seegang sorgte ich mich, Niña könnte seekrank werden, denn es hat sich immer wieder gezeigt, daß die meisten Menschen zu irgendeiner Zeit ihres Lebens einmal von der Seekrankheit gepackt werden, selbst wenn sie sich für seefest halten. Ich habe einmal in einem Biskayasturm einen Kapitän gesehen, dem fürchterlich übel war, während es mir ganz gut ging. Vier Wochen später aber wurde mir in einem Fischerboot in der Straße von Gibraltar schlecht, obwohl es nicht einmal stürmte.
In meinem eigenen Boot litt ich niemals unter Seekrankheit, mußte jedoch in bestimmten Körperstellungen, besonders beim Ausschöpfen des Bootes, höllisch aufpassen, daß ich nicht doch die Fische fütterte.
In der LIBERIA IV war es mir bei diesem Wetter auch nicht möglich, längere Zeit gefahrlos an der Kochnische zu arbeiten; alle paar Minuten mußte ich den Kopf in die frische Luft stecken. Niña erging es ebenso.
Selbst im Kino kann man „seekrank“ werden, wenn man zum Beispiel in einem dreidimensionalen Film eine Berg- und Talbahnfahrt intensiv miterlebt; der Terminus technicus dafür ist „bewegungskrank“. Auch auf einer Kaimauer sind schon Menschen „seekrank“ geworden, weil sie ein dümpelndes Boot zu lange betrachtet hatten.
Wenn ich im Autobus ganz hinten sitze, werde ich zuweilen noch heute „reisekrank“, in Flugzeugen dagegen bin ich niemals „luftkrank“ gewesen, auch nicht in den schwersten Stürmen. Babys werden nicht seekrank, taube Menschen auch nicht.
An Bord von großen Dampfern sind richtige Verhaltungsmaßregeln ebenso wichtig wie Tabletten gegen Seekrankheit: essen wie gewöhnlich, nicht zu viel, nicht zu wenig; den Kopf beim Sitzen anlehnen; Maschinengeruch meiden und für frische Luft in der Kabine sorgen. Tabletten gegen Seekrankheit haben vorwiegend suggestive Wirkung.
In offenen Rettungsbooten ist der Prozentsatz der Seekranken geringer als auf Dampfern, weil Schiffbrüchige durch andere Sorgen abgelenkt werden und weil sie stets den Horizont sehen. Wird jedoch ein Schiffbrüchiger seekrank, dann schwebt er in besonders großer Gefahr, da die Seekrankheit eine unvorstellbare Gleichgültigkeit aufkommen läßt und jede Hoffnung tötet.
Auch Tiere werden seekrank, selbst Seevögel und Fische. Ich kenne einen Fall, in dem sogar Tümmlern, die von Miami über die Floridastraße transportiert wurden, die Seefahrt nicht bekam. Die Ursache liegt im Gleichgewichtsorgan, das dem Gehirn stets die Körperlage signalisiert und dessen Signale auf bestimmte Gehirnzellen überspringen können, so daß Brechreiz, Müdigkeit, Kollaps und sogar Todesverlangen ausgelöst werden.
Nur unter Fock5 dahinsegelnd machten wir dennoch rasende Fahrt. Segel und Mast, stehendes wie laufendes Gut6 waren überdurchschnittlich stark, so daß ich keine Havarie zu fürchten brauchte. Morgens und abends machte ich meine Bordrunde, um Schäden entweder verhindern oder beseitigen zu können, denn gerade auf dem Meer darf man sich niemals im Bewußtsein seiner guten Ausrüstung allzu sicher fühlen und nachlässig werden. Durch Eitelkeit sind schon viele Unfälle entstanden.
Niña lag zusammengekauert auf der Bank und betete, der Sturm möge uns doch endlich in Frieden lassen. Doch draußen brauste, schäumte und tobte das Meer unbekümmert weiter. Seit 24 Stunden pfiff der Wind durch die Wanten7, rohrten die Seen und toste das Meer. Unsere starke LIBERIA IV wurde von den Riesenwellen wie ein Stück Treibholz gepackt und in die Höhe gehoben; gewaltige Brecher schleuderten sie bisweilen zehn, fünfzehn Meter in die gewünschte Richtung. Hin und wieder stürzten sich Wassermassen über das Boot, so daß nur noch der Mast aus dem Gischt herausragte.
Als Niña mich in diesem Inferno abgelöst hatte, sah ich mit Entsetzen, daß das Boot Wasser gemacht hatte.
Ich pumpte wie ein Besessener und überlegte dabei angestrengt, von wo wohl das Wasser eingedrungen sein könnte. Die LIBERIA war neu und bestens gebaut, ihr Rumpf stärker als vorgeschrieben – nein, am Boot konnte es nicht liegen. Endlich war das Wasser ausgeöst. Ich drehte den Wasserhahn auf – kein einziger Tropfen! Da hatte ich des Rätsels Lösung: der Wassertank mußte leck geschlagen sein! Über 400 Liter Wasser hatten sich in die Bilge8 ergossen! Zum Glück gab es noch genügend Wasserbehälter aus Plastik an Bord; kein Orkan konnte sie zerstören!
Draußen heulte es weiter. Das Boot machte Bocksprünge wie ein ungezähmtes Pferd auf einem Rodeo im Westen Amerikas. Bei jedem Schlag gegen die Bordwand wachte ich aus einem unruhigen Schlaf auf und schaute nach draußen, ob Niña noch zu sehen war. Sie klammerte sich krampfhaft mit der rechten Hand an der Cockpitverkleidung fest, mit der linken Hand hielt sie die Pinne. Sobald sie mich sah, versuchte sie angestrengt, ihr vom Sturmwind krebsrot gepeitschtes Gesicht zu einem zuversichtlichen Lächeln zu verziehen. Für sie, die „Nichtseglerin“, war es selbstverständlich, ihre Wachen auch bei schlechtem Wetter zu schieben.
Am nächsten Morgen hatte sich der Sturm ausgebraust, doch immer noch brüllte die See, und immer noch sauste die LIBERIA unter Fock dahin. Als ich nach der Wachablösung wieder in die Kabine kam, rutschte ich auf den Bilgenbrettern aus – sie waren dick mit Öl verschmiert; der Sturm hatte auch noch die Öltanks zerschlagen!
Die letzten Tage der Überfahrt verliefen ohne weitere Zwischenfälle. Neun Tage nach der Abfahrt aus Lissabon schlichen wir uns morgens gegen drei Uhr in Puerto de la Luz, den Hafen von Las Palmas auf Gran Canaria, ein. Im glitzernden Wasser vor dem königlichen Yachtlub machten wir ein paar Boote aus und gingen neben einem Schoner9 vor Anker.
1 Segel ohne Wind, aus dem Englischen: calm = still.
2 71 Sekunden Tauchdauer und 9½ m Tiefe sind der durch wissenschaftliche Beobachtungen erwiesene Rekord.
3 Der im Deck vertiefte Sitzraum für den Rudergänger auf Yachten, meist „die Plicht genannt.
4 Rudergriff
5 Das untere Segel an der Vorkante des Mastes.
6 Festes und bewegliches Tauwerk.
7 Stahlseile, die den Mast seitlich stützen.
8 Die tiefste Stelle im Schiff.
9 Mehrmastiges Segelfahrzeug, dessen größerer Mast hinten steht.