Eine ganz andere Beobachtung stammt von der Bark „Pauline“, deren Kapitän vor Gericht aussagte, sein Schiff hätte am 8. Juli 1875 an der Meeresoberfläche einen Pottwal gesehen, der sich vergeblich bemüht habe, aus der tödlichen Umschlingung einer Seeschlange zu entkommen. Schließlich sei der Pottwal mitsamt der Seeschlange unter den Augen der Besatzung in die Tiefe gesunken.
Ob es Seeschlangen gibt oder nicht – darüber sind die Meinungen geteilt. Es ist jedoch durchaus möglich, daß es sich um einen Riesenkraken gehandelt hat, einem Tier, das die Pottwale vorzugsweise zu jagen scheint.
Die fiktiven Kämpfe der Riesenkraken sind viel bekannter als jene, die von Fischern oder Seeleuten wirklich erlebt wurden. Das kann man auch verstehen, wenn man die hochdramatische Schilderung Jules Vernes’ vom verzweifelten Kampf des Kapitäns Nemos mit dem Kraken mit der beiläufigen Schilderung dreier Fischer aus Neufundland vergleicht, die aus dem Jahre 1873 stammt.
Diese Fischer hatten eine undefinierbare Masse auf dem Wasser flooten sehen und waren neugierig herangepullt. Sie untersuchten sie mit einem Enterhaken – jedoch die Masse liebte dieses Gefühl gar nicht und erwachte plötzlich zum Leben. Ehe sich die drei Fischer versahen, glitten zwei Riesenfangarme übers Boot und suchten offensichtlich nach einem Festschmaus. Einer der Fischer schlug jedoch dem Ungeheuer mit einer Axt die beiden Tentakel ab, so daß es sich unter Ausspritzung einer üblen Sauce in die Tiefen verzog. Die Fischer benutzten einen Teil der Fangarme als Köder und setzten ihre Arbeit fort.
Als sie an Land ihre unglaublich klingende Geschichte zum besten gaben, zeigten sie stolz einen Tentakel, der immer noch etwas über sechs Meter lang war. Sie gaben unter Eid an, daß sie bereits zwei Meter davon beim Angeln „verbraucht“ hätten und daß weitere drei Meter dem Tier noch verblieben waren.
Wer alle Berichte über Riesenkraken aufzeichnen will, wird leicht ein ganzes Buch damit füllen können. Noch aus dem Jahre 1946 stammt die überzeugende Meldung des norwegischen Kapitäns Grönningsäter, wonach mehrere etwa 20 Meter große Riesenkraken versucht hatten, einen 15.000-Tonnen-Tanker anzugreifen. Man erinnert sich unwillkürlich der Seemannsgeschichten, in denen sich Kraken einen Mann aus dem Krähennest3 angeln!
Auch ich hatte ein ungewöhnliches Erlebnis mit einem Tier, das sehr gut ein Krake gewesen sein kann: auf meiner ersten Atlantiküberquerung sah ich am 3. November 1955 morgens eine große, rotbraune Masse auf der Wasseroberfläche treiben. Als ich auf der Höhe des Wasserbergs anlangte, bemerkte ich auf dem vorderen Teil des braunen Etwas zwei große dunkle Flecke – ich hielt sie für Augen –, an deren Rändern die Sonne reflektierte. Am Ende des größeren Achterteils schäumte es, ein Zeichen, daß das Gebilde sich dort bewegte. Ich warf sofort das Ruder herum, holte die Kamera hervor – aber nichts war mehr zu erkennen. Das Wesen zeigte keinen Sinn für Publicity, sondern verschwand schneller, als ich knipsen konnte.
Wie groß mag es gewesen sein? Auf dem Meer ist es schwierig zu schätzen, jedoch glaube ich, daß es gut und gerne 20 Meter maß. Von Tentakeln oder Fangarmen war nichts zu sehen.
Mein Erlebnis hatte mit dem der „Alecton“ manches gemeinsam: den Kanarenstrom als Handlungsort, den Monat November als Zeitpunkt, den grellen Sonnenschein und die ruhige See.
Ob mein Meeresungeheuer in Wirklichkeit aus zwei Tieren bestand: einem Krakenmann und einer Krakenfrau, die sich ein galantes Stelldichein gaben? An und für sich soll man sich ja nicht in das Privatleben anderer Leute einmischen, aber das Liebesleben der Tintenfische ist zu aufregend, als daß man mit einem diskreten Lächeln darüber hinweggehen könnte.
Was sich jede Frau ersehnt: stundenlang von ihrem Liebsten hofiert zu werden, das tut der Tintenmann mit einer beneidenswerten Ausdauer, und rot spielt bei ihm wie bei den Menschen als Liebesfarbe eine große Rolle.
Bei der Paarung steigern sich einige Tintenfischarten in einen regelrechten Liebesrausch hinein, auf dessen Höhepunkt einer der umgestalteten Arme des Tintenmannes, der Hektocotylus, in die Mantelhöhle des Weibchens kriecht und dort die Befruchtung, vornimmt. Mit diesem Arm weniger entschlüpft dann der feurige Liebhaber dem achtarmigen Liebesnetz des Weibchens.
Der Raub der „Serene“
Im Laufe der folgenden Wochen traf ich häufig mit dem Besitzer der Nachbaryacht „Serene“ zusammen. Lars Roedahl war aus Texas nach Las Palmas gekommen, um einen schweren Bandscheibenschaden auszukurieren. Wie er gerade auf Las Palmas verfallen war? Seine kleine Tochter hatte zu Hause in Beaumont nach altbewährtem Rezept mit dem Zeigefinger auf den Globus getippt, als die Familie überlegte, wo sie sich zur Erholung niederlassen sollte. Der Finger wies auf die Kanarischen Inseln. Aber es hätte auch Poppenbüttel sein können. Man packte die Koffer, und wenig später traf Familie Roedahl in Las Palmas ein.
Einige Wochen lang blieb Lars in den Bergen bei Las Palmas, ließ sich massieren, trieb Gymnastik und bezahlte gepfefferte Rechnungen. Als zufällig im Hafen eine Yacht zu verkaufen war, griff er zu und fand sich plötzlich als Besitzer des Schoners „Serene“ wieder, eines 16 Meter langen, 25 Tonnen schweren Bootes, dessen Geschichte geradezu unglaublich klingt:
Serene heißt die „Heitere“, doch es hatte ihren früheren Eigner, einen alterfahrenen Yachtsportler vom New-Yorker Yachtclub, gar nicht heiter gestimmt, als er vor drei Jahren vergeblich auf sein Boot warten mußte. Unter Beachtung sämtlicher Formalitäten hatte er es für zehn Tage an einen Joseph Schmitz aus Chicago verliehen, der sogar ein Kapitänspatent vorlegen konnte. Es war vereinbart worden, daß Schmitz nur in den Binnengewässern um New York kreuzen durfte. Aber Schmitz dachte gar nicht daran, sich auf Binnengewässer zu beschränken. Sein Ziel war Afrika.
Er hatte zwei Landratten aus Chicago mitgebracht, die bis dahin Boote nur aus dem Kino kannten, und er schwärmte ihnen vor: daß man in Afrika durch Handel und Schmuggel Reichtümer verdienen könne. Die beiden – Handelsvertreter ihres Zeichens – waren Feuer und Flamme, solange sie noch festen Boden unter den Füßen hatten. Als sie jedoch den Schoner betraten, wollten sie am liebsten auf der Stelle umkehren, und als Schmitz schon in der ersten Nacht einen neuen Namen an die Bordwand malte, „Marcel V“, waren sie ernstlich bestürzt.
Kaum hatten die drei die Skyline von Manhattan aus den Augen verloren, gerieten sie auch schon in einen ausgewachsenen Sturm. Das Schiff bot bald den Anblick eines Schlachtfeldes, die Küche flog umher, ein Segel zerriß mit Donnerknall; zerschunden, blutend und laut betend kauerten die beiden Handelsvertreter in einer Kojenecke, während Schmitz drei Tage lang ununterbrochen Ruderwache hielt. Er fühlte sich durchaus in seinem Element.
Dann kam eine elende Flaute, und die Vorräte in der Kombüse gingen zur Neige. Um das Maß voll zu machen, gerieten unsere kühnen Seefahrer noch in den Hurrikan Carrie; es war der gleiche, in dem die deutsche Viermastbark „Pamir“ sank. Der eine Handelsvertreter machte sich Aufzeichnungen über seine „letzten Tage auf dieser Erde“, der andere lag lethargisch in einer Kojenecke und erwartete nur noch das Ende.
Da stürmte der unverwüstliche Schmitz mit einer Freudenbotschaft herein: „Land in Sicht!“ Die beiden wußten nicht, ob sie Eskimos, Negerinnen oder Feuerländerinnen erwarten durften – es war ihnen auch gleich. Aber was da am Horizont vor ihnen auftauchte, waren weder Nord- noch Südpol, sondern die Kanarischen Inseln. Am 51. Tag ihrer Fahrt lief die „Marcel“ in den Hafen von Santa Cruz de Tenerife ein.
Die Handelsvertreter hatten für die nächsten hundert Jahre die Nase voll von Abenteuern; sie wollten so schnell wie möglich nach Hause. Doch da sie all ihr Geld in die für Afrika bestimmte Fracht gesteckt hatten und Schmitz genauso blank war wie sie, gab es nur einen Ausweg, einen greulichen Ausweg, aus ihrer hoffnungslosen Lage: sie mußten aufs Meer zurück, und zwar auf eine kleine Ketsch4, die gerade in Richtung Westen segeln wollte. Nach einem erneuten Leidensweg von 30 Tagen gelangten sie zerschlagen und zerschunden nach Barbados und flogen von dort in die USA zurück.
Schmitz – er hieß in Wirklichkeit Bredel – segelte indessen nach Las Palmas, wo ihn sein Schicksal ereilte: das Boot, nach dem schon lange gefahndet worden war, wurde unter Bewachung gestellt, und