Die Einfälle der heiligen Klara. Pavel Kohout. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Pavel Kohout
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711461365
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auf Spickzetteln. Und wie war’s bei Ihnen, Kollege?

      Sie waren schon fast an der Tür der 8 a angelangt, aber dennoch hielt der Mathematiklehrer baß erstaunt inne. Er starrte den Direktor mit einem Blick an, in dem sich Subordination und Verachtung miteinander vermengten.

      – Ganz normal, Genosse Direktor,

      sagte er würdig,

      – ich habe alles ausgerechnet ...

      – Aha,

      machte der Direktor und wechselte rasch das Thema,

      – dann Hals- und Beinbruch. Ich halte hier Wache.

      Er bezog die Position im Türrahmen der Knabentoilette.

      Zweiundvierzig Leiber schnellten zum Gruß empor. Brunát gewährte nickend Sitzerlaubnis und wartete schweigend, bis die Hefte verteilt waren. Zufrieden gewahrte er aus den Augenwinkeln, daß auch bekannte Größen à la Tikal, Brož, Dušek und Ehrenberger noch nie dagewesene Nervosität an den Tag legten. Allein Klára Zimová beobachtete er nicht einmal aus den Augenwinkeln. Die Verteilung war beendet. In der Klasse machte sich Grabesstille breit. So, forderte er den unbekannten Widersacher auf, nun zeig, was du kannst! Laut indes gebot er:

      – Fenster schließen! Wer sich umdreht oder wispert, gibt sein Heft bei mir ab und erhält ein Ungenügend. Bašus! Kommen Sie her und nehmen Sie die Brille ab!

      Bašus erhob sich entgeistert, trat aufs Podium und wandte ein:

      – Ohne Brille sehe ich nichts ...

      – Darum geht’s ja!

      sagte der Mathematiklehrer und legte die Brille des Schülers aufs Katheder,

      – eben darum geht es. Und jetzt greifen Sie mir in die Tasche!

      Bašus erstarrte, und nicht als einziger.

      – Genosse Professor ...

      – Nur unverzagt, Bašus. Was Sie darin finden, ist für Sie. Also, was wird es wohl sein, nun?

      Endlich tastete Bašus nach der Sakkotasche des Pädagogen und fingerte schüchtern darin herum. Unsicher sagte er:

      – Blättchen ...

      – Oho,

      sprach Brunát ironisch,

      – nun sagen Sie bloß noch, ich hätte Insekten darin!

      Bašus hatte sich endlich zurechtgefunden.

      – Papierschnitzel ...

      – Richtig. Und wieviel mögen es wohl sein, was meinen Sie?

      – Ich weiß nicht.

      – Dann denken Sie nach, zerbrechen Sie sich, Bašus, ein bißchen den Kopf. Mathematik ist keine Milchmädchenrechnung, sondern vor allem Logik!

      – Ich weiß es nicht ...

      – Dann will ich’s Ihnen sagen. Es sind genau einhundertundzwanzig, ebensoviel wie Beispiele in unserem Lehrbuch. Sie ziehen jetzt fünf davon brav heraus, dann setzen Sie sich die Brille auf und lesen uns die Nummern vor. So ist es am gerechtesten, was meinen Sie?

      Die Klasse starrte ihn mit stummem Grauen an. Einzig Tikal vermochte den Blick von ihm zu wenden und auf die dritte Bank zu heften. Klára lächelte scheu vor sich hin, aus Verlegenheit, wie ihm schien. Er spürte, wie die Luft im Klassenzimmer sich mit Unwillen schwängerte, und dachte ans Ende der Unterrichtsstunde: Wer stellt ihr als erster ein Bein? Brož? Dušek? Ehrenberger? Oder Šefrna? Und wie verhält sich ein Häuptling, der ihr sein Wort verpfändet hat? Sein Wort einem Mädchen? Schon vernahm er das Huronengelächter, aber schon stürzte er sich auch auf sie, um ihnen zu zeigen, wer hier das Sagen hatte, allein gegen vier und doch überlegen, nämlich im Bewußtsein des Rechts, und hauptsächlich unter dem bewundernden Blick der mandelförmigen ...

      – Nun, frisch drauflos! Es ist ja ohnehin egal!

      Tikal war mit einem Ruck wieder wach.

      In Bašusens kurzsichtigen Augen spiegelte sich die Anstrengung, mit der er die zusammengefalteten Zettel aus der Tasche fischte. Schließlich war er beim fünften angelangt.

      – Legen Sie alle aufs Katheder,

      rief Brunát; im Bewußtsein seiner erdrückenden Vormachtstellung war er nun die Liebenswürdigkeit selbst.

      Bašus brachte dies erst nach einmaligem Verfehlen des Katheders zustande. Dann setzte er sich die Brille auf und schaute abermals den Mathematiklehrer an, um sich zu vergewissern, daß dieser nicht scherzte.

      – Nur zu,

      ermunterte ihn der Professor,

      – wie Sie sie betten, so werden sie liegen. Wer etwas gelernt hat, wird Ihnen sicher nicht böse sein.

      Bašus faltete also den ersten Zettel auseinander und las vor:

      – Fünfundsechzig ...

      Die Klasse stöhnte. Brunát hielt es für schiere Verzweiflung. Mit geradezu bösartiger Wonne, die ihn überraschte, die er jedoch der Ungeheuerlichkeit des Betrugs anlastete, nahm er Bašus den Zettel ab und hielt ihn den Vorderbänklern vor die Nase wie der Conferencier einer Fernsehlotterie.

      – Fünfundsechzig!

      wiederholte er schadenfroh,

      – zufrieden? Also, was haben wir als nächstes?

      – Zweiunddreißig ...

      las Bašus vor.

      Die Klasse ächzte.

      – Zweiunddreißig, jeder sieht es! Weiter?

      – Einundfünfzig ...

      Die Klasse schnappte nach Luft.

      – Bitte sehr,

      demonstrierte der Professor,

      – einundfünfzig. Weiter!

      – Fünfzehn ... Die Klasse hielt die Luft

      an.

      – Fünfzehn,

      verkündete Brunát marktschreierisch,

      – wenn’s beliebt! Und schließlich? Na?

      – Sechsundsechzig,

      las Bašus vor.

      Der Klasse blieb die Luft weg. Verzweifelt vorwurfsvolle Blicke zuckten zur Zimová.

      O Gloria, dein wahrer Name ist Wankelmut! Was zählt’s, dies Feuerwerk erfüllter Prophezeiungen, wird es am Schluß von eines Irrtums schnödem Furz entweiht?

      Das herrliche Wunder erhielt den nüchternen Anstrich des Zufalls. Schade, bedauerte auch Tikal, es hätte den Alten so schön auf die Palme bringen können ... Aber gleich darauf tat ihm Klárka leid, und er sandte ihr einen aufmunternden Blick hinüber.

      – Zufrieden?

      ergötzte sich Brunát und nahm Bašus den letzten Zettel aus der Hand,

      – sechsunds ...

      Da stutzte er und reichte Bašus das weiße Quadrat zurück.

      – Warum ist da wohl ein Punkt, Bašus?

      – Was für ein ...

      Bašus starrte das Quadrat verständnislos aus der Nähe an.

      – Nehmen wir an,

      sagte Brunát großmütig,

      – Sie hätten ihn übersehen, denn sonst müßte ich meinen, sogar Sie, Bašus, fürchten das Beispiel Nummer – wieviel?

      Er stellte den Zettel auf den Kopf und zeigte ihn der Klasse.

      – Neunundneunzig!

      rief die Klasse in begeistertem Unisono.

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