Der Notar hat nicht mehr viel zu schreiben. Es folgt eine kurze Klausel über die Lebensrente aus Irland und deren Verwendung, solange meine Mutter lebt und für die Zeit nachher. Ich denke ganz anders darüber, aber ich schweige und unterbreche den Letzten Willen meines Vaters nicht. Der Notar erhebt sich. Er geht.
Meine Mutter tritt ein mit einem Tablett, aber mein Vater berührt nur so viel von jedem Gang, daß er meine Mutter für die ausgezeichnete Zubereitung loben kann. Sie strahlt denn auch über die schmeichelhaften Worte, die sie nicht ganz verdient. Dann läßt sie uns allein.
Mein Vater sieht mich lange an und sagt dann: »Bitte, sei mir behilflich, ich will aufstehen.« Ich gehorche ihm stumm, reiche ihm die nötigen Kleidungsstücke, stütze ihn, wenn es erforderlich ist, im Kreuz, unter den Armen und helfe ihm in den Gobelinlehnstuhl. Er atmet tief, ist von der Anstrengung eher blasser als roter, eher ruhiger als lebhafter geworden und drückt nur meine Hand mit einem langen, meine Hand fest umfassenden Drucke und schweigt. Es schellt, jemand tritt auf den Zehenspitzen in den Vorraum und spricht mit leiser Stimme mit der Mutter. Mein Vater wendet sich zu mir: »Wie lebst du?«
»Ich arbeite in einer Turbinenfabrik.«
»So. Bist du zufrieden?«
»Ja, ich bin zufrieden.«
»Ich kenne das Unternehmen, man hat mir vor fünfzehn Jahren eine Aufsichtsratsstelle angeboten, ich habe abgelehnt, da es uns widerstrebt, ohne Gegenleistung Geld in Empfang zu nehmen, und meine Leistungen wären gleich Null gewesen.«
Als ich protestiere, sagt er: »Doch, ich weiß es. Vielleicht war es nicht recht. Ich hätte mehr für euch tun können. Bist du nun zufrieden?« wiederholt er.
»Jetzt gewiß«, sage ich, »wenn ich bei dir bin.«
»Nicht so, du weißt es; nicht so, das will ich nicht.«
»Ich bin zufrieden.«
»Das ist mir lieb. Das beruhigt mich sehr. Das ist mir sehr lieb.«
Die letzten Worte kommen nur mühsam und gedehnt aus seinem blasser werdenden Munde. Ist er am Erlöschen? Ich will mit ihm sprechen, ich will, während ich seine edlen, ovalen, schon azurblauen Fingernägel betrachte, an ihn die unsinnige Bitte richten, die alle Überlebenden an die Sterbenden richten, diese möchten doch nicht fortgehen, sie möchten es doch uns zuliebe nicht tun. Aber ich bewahre Haltung. Ich weine nicht. Tränen kamen mir immer schwer. Ich presse die Lippen aufeinander und unterdrücke jeglichen Gefühlsausbruch. Nach einer kleinen drückenden Pause tritt der alte Hausarzt ein. Offenbar hat er meiner Mutter trübe Aufklärungen gebracht. Sie folgt ihm auf dem Fuße, stößt mich fast beiseite, faßt den alten Arzt am Arm und droht ihm, ihn nicht fortzulassen, bevor er meinen Vater nicht gerettet habe. Sie besteht auf einer neuerlichen genauen Untersuchung und gebraucht Worte, deren Bedeutung sie sich in ihrer Aufregung nicht bewußt ist. Der alte Arzt gibt ihrem Drängen nach, und wir, der Arzt und ich, entkleiden den armen Vater, der sich alles gefallen läßt und sogar meine wutbebende Mutter beruhigt. Alle Kleidungsstücke, die er sich mit meiner Hilfe mühsam angelegt hat, werden abgezogen. Endlich liegt er fast völlig entkleidet da. Was ein Sohn bei dem Anblick seines fast nackten Vaters empfindet, läßt sich nicht schildern. Aber ich beherrsche mich, auch mein Vater tut es. Welchen Sinn hat dieses fürchterliche Tun? Was kann man an diesem Herzen vernehmen? Was kann man an diesem Körper fühlen? Zuerst befiehlt der alte, selbst schon dem Grabe sich zuneigende Arzt Ruhe, obwohl wir uns nicht im mindesten rühren, dann untersucht er, drückt und knetet den empfindlichen Kranken, der aber keine Miene verzieht, auch hier den alten Schüler Onderkuhles verratend, dann hebt der Doktor die Augen zur Decke, als stünde es oben geschrieben. Schließlich zuckt der Hausarzt die Achseln und verweist uns mit etwas bebender Stimme auf die »moderne« Ansicht des Professors, den wir alle erwarten. Die Mutter legt dem Vater eine verschossene Seidendecke von Kupferfarbe über und stützt seinen mageren, gelben, wieder zum Schlaf bereiten Kopf mit so viel schweren Kissen, als müsse man ihn jetzt schon aufbahren. Der Fürst faßt sich, in seine Züge tritt der bei ihm sehr seltene, aber mir eben deshalb unvergeßbare Ausdruck von Energie, er möchte sprechen, mir noch vieles sagen. Da übermannt ihn, während er die Lippen noch lautlos bewegt, der Schlaf, der kommende Tod. Mein Vater preßt mir fast schmerzhaft die Hand, als wolle sein Körper mich bitten, ihn zu wecken, wenn die Seele schon schläft. Aber das tut kein Sohn.
Meine Mutter weint, oder besser gesagt, sie vergießt Tränen, die ihren hellbraunen schönen Augen ohne Mühe entströmen. Der uralte Hausarzt ist verlegen, reibt sich die rötlichen fetten Hände und verordnet Ruhe, als wäre mein Vater damit nicht schon im Übermaß gesegnet…
Kapitel Dreißig
Nicht, wie versprochen, um fünf Uhr, sondern erst gegen acht Uhr erscheint der Chirurg. Es ist inzwischen fast unerträglich schwül geworden, und als der Arzt, ein untersetzter, stark nach Lysol und Maiglöckchen riechender Herr mit Doppelkinn und prallen dunkelroten Wangen, eintritt, beginnt draußen ein Gewitter mit Donner und Blitz und Hagel aus schwefelgelben Wolken niederzugehen. Der Arzt legt erst würdevoll seinen Hut und seine Handschuhe ab, er stellt sich vor dem Kranken in Positur, wobei er sein fettes Kinn durch würdevolles Zurückwerfen des Kopfes zu verbergen sucht, als wäre er ein Pferd, das mit aufgerecktem Schwanenhalse Hohe Schule zu reiten hätte. Nachdem er, wie er glaubt, genügend Eindruck auf uns gemacht hat, beugt er sich zu dem Kranken herab. Seine starren Züge lösen sich, er untersucht den schlafenden, durch starkes Rütteln nicht zu erweckenden Vater mit seinen ausgepolsterten Fingerspitzen, zieht ihm dann, um den Gehalt des Blutes an Farbe zu prüfen, das linke untere Augenlid herunter, streicht ihm in Gedanken das spärliche Haar an den Ohren zurecht, nickt dann zum Abschluß sich selbst zu, deckt mit Sorgfalt den Vater wieder zu und wendet sich ab. Eine Operation wäre möglich, sagt er. »Ob sie Erfolg verspricht?« fragen wir aus einem Munde. »Sie verspricht ihn wohl, hält ihn aber meistens nicht«, antwortet er mit kühlem Ärztewitz. Ob wir nicht wenigstens mit einer nochmaligen Besserung rechnen dürfen, frage ich. Meine Mutter schluchzt in sich hinein, beißt mit ihren Perlenzähnchen in ein spitzenbesetztes Taschentuch. Der Arzt hat bereits den Hut in der Hand, er läßt seinen Blick über die ärmliche Einrichtung des aus einem Saale in ein improvisiertes Krankenzimmer verwandelten dreifenstrigen Raumes schweifen, erinnert sich des vornehmen Namens, der ihm vom Hofe sicherlich bekannt ist, legt dann den Hut aus der Hand und kommt nochmals zum Krankenbette zurück. Er läßt sich in den Lehnstuhl fallen und überlegt von neuem. »Ich könnte die Operation natürlich versuchen«, sagt er schließlich, »aber der Erfolg wird selbst im Falle des Gelingens nur ein vorübergehender sein. Aufzuhalten ist dieser Prozeß nicht. Ob der Kräftezustand für einen langwierigen und technisch schwierigen Eingriff, allemal ein Triumph der Chirurgie, ausreicht, ist auch ein Problem. Ob es nicht besser ist, wir lassen den Kranken ruhig hinüberschlummern, ersparen ihm Schmerzen, soweit es nur möglich ist? Das können wir.« – »Handelt es sich um eine unmittelbare Gefahr?« frage ich, mit dem Aufgebot aller Kräfte mich beherrschend. »Ach nein, keine Gefahr, nur eine naturwissenschaftliche Notwendigkeit.« – »Und wie lange?« – »Die Diagnose ist Sache der Menschen, die Voraussage Sache des Himmels. Raum zu Illusionen ist immer da. Tage oder Monate, wer weiß es … niemand, nicht einmal der, den es am meisten angeht … und soll es auch nicht wissen … «
Was können wir anderes tun als schweigen. Der Arzt wirft einen Blick durch die trüben Scheiben auf die mit Regendampf erfüllte