50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2. Эдгар Аллан По. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Эдгар Аллан По
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Учебная литература
Год издания: 0
isbn: 9782291092247
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sie aber nicht mich. Es herrscht große Stille, in die von Zeit zu Zeit, vielleicht weil der Wind das Geräusch näher bringt, das röchelnde Atmen des Vaters hinüberklingt, das etwas an das Schnurren der Nähmaschine des jüdischen Schneidermeisters erinnert. Nur nicht an das Ende meines Vaters denken müssen! Die Mutter macht jetzt flink Ordnung, das heißt, sie rafft auch die Romanbände zusammen, schichtet sie dann, mit den aufgeschlagenen Seiten nach oben, einen über den anderen. Dazwischen liegt auch ihr Goldschnittbrevier. Die Puppen kommen auf einen andern Haufen. Sich selbst macht sie schön, ein paar Striche mit der Puderquaste, dann die Haarnadeln gelöst, das immer noch volle Haar mit einem breitzähnigen Kamme durchgekämmt. »Sieh nicht her, Junge, ich bitte dich!«

      Ich fühle nicht mehr, wie mein Herz schlägt, ich bin außer mir vor Angst …

      Ihre Toilette, so flüchtig begonnen, scheint sich in die Länge zu ziehen.

      Ich frage noch einmal: »Was geht vor? Du wolltest mir doch noch etwas sagen?«

      »Ich? Dir? Nein, ich erinnere mich nicht, mein Liebling. Sag, du wirst jetzt frühstücken wollen? Hast du heute schon gebadet? Ich bade jeden Morgen um fünf. Dann noch ein wenig Schlaf, das tut gut, dann aber kein Auge geschlossen bis zwei Uhr morgens, nein, ein Uhr, oder auch Mitternacht … Aber sag, willst du denn Papa nicht sehen?«

      Ohne zu antworten, nicke ich. Sie führt mich zu ihm. Die Vorhänge sind aufgezogen, vom Morgenwind hin und her geschaukelt. Die Luft ist frisch und kühl. Mein Vater liegt zu Bett. Die Krankheit muß sein Gesicht ganz verändert haben. Er ist es, und doch gleicht er jetzt einem sehr alten, mir fremden, tief in Schlaf versunkenen Manne. Kein Haar auf dem matt leuchtenden Scheitel, bloß einen dürftigen schneeweißen Kranz am Hinterkopf und hinter den Ohren je ein Büschel. Der Mund sehr weich, die Unterlippe hängend, gefärbt mit einem trüben bläulichen Rot. Darüber ein sehr feiner weißer Schnurrbart, der girlandenförmig die feine Oberlippe bedeckt, wie aus Seidenfäden geflochten, mit jedem Atemhauche erbebend. Eine stumme, in sich versunkene Gestalt. Die Augen geschlossen, mit teerosenfarbenen Augenlidern bedeckt, ihre Wölbung ist etwas abgeflacht, sich kaum mit einer Wölbung aus der Tiefe der düster umrandeten Augenhöhlen erhebend. Der Oberkörper des Schlafenden ist auf die Kissen aufgerichtet in einer würdevollen, aber sehr unbequemen und für das Herz sehr anstrengenden Haltung, was man an der pergamentenen Blässe der tief durchfurchten Wangen erkennt. Ich nehme, sehr zum Erstaunen meiner Mutter, die unbequemen Kissen fort, und der lange kühle Kopf sinkt wie der eines Leblosen leise knisternd auf meinen Ärmel nieder. Ich hebe die Decke. Ich fasse seine Füße an. Sie sind, wie die geschnitzten Füße des elfenbeinernen Kruzifixes im Boudoir meiner Mutter, gelb, kalt, edel, bewegungslos. Sie sind nicht die Karikatur, sondern ein Ebenbild seiner Hände, die jetzt eben, gebadet im Lichte der vollen einströmenden Julisonne, übereinander auf der rostroten Bettdecke liegen, wie ich sie nach meinem ersten Handkuß hingelegt habe … Ich möchte nicht nur seine Hand küssen, sondern ihn umarmen, ihn rufen, sagen, daß ich da bin, bei ihm sein, bleiben! Bei ihm zu bleiben erscheint mir jetzt als das Höchste, das Erstrebenswerteste. Wie aber den totenähnlichen Schlaf stören? Kann ich es? Darf ich es? Muß ich es?

      Meine Mutter hat ungeduldig zugesehen. Jetzt nimmt sie mir beide Hände fort, preßt sie zwischen ihre samtweichen warmen Hände: »Laß ihn schlafen, geliebtes Herz!«

      »Aber kann das so weitergehen? … Viel Kräfte hat er nicht zu verlieren … «

      »Genau das gleiche sagte ich gestern der Frau des Portiers. Mit denselben Worten … «

      »Was tun? Was verordnet der Arzt?«

      »Der Hausarzt ist etwas unruhig geworden. Aber er meint, es sei Blutarmut und Gefäßschwäche … «

      »Ist er seiner Sache sicher? Hast du Vertrauen zu ihm?«

      »Wäre ich selbst krank, sicherlich … «

      »Soll ich einen andern Arzt holen? Wie heißt der behandelnde Arzt des Hauses (der Dynastie)?«

      »Ja, denkst du wirklich, es sei Ernst? Er war gestern nervös, Papa, er sprach gestern auch von Professor B. Aber wie soll man zu dem gelangen? Er ist so schwer zu erreichen … Ich habe im Hause so viel zu tun … Es kommen auch Fremde. Heute wollte Papa mit seinem Notar sprechen … Auch der Abbé sieht nach ihm … «

      Ich höre die letzten Worte nicht mehr an. Ich stürze, an der erstaunten Portierfrau vorbei, die Treppe hinab auf die Straße, suche im nächsten Laden aus einem Adreßbuch die Wohnung von Professor B., nehme eine Droschke, treibe den Kutscher zu höchster Eile an, erfahre in dem prächtigen stillen Haus des Arztes, daß er nicht mehr hier wohnt, sondern sich in einem Vorort eine Villa gebaut habe, aber auch dort wird er jetzt kaum zu erreichen sein, sondern auf der Universitätsklinik. Ich fahre dorthin, dringe unter großen Schwierigkeiten über das unwillige Personal zu dem Professor vor, der aber aus irgendeinem Grunde freundlich und zuvorkommend ist, meine Zudringlichkeit höflich lächelnd entschuldigt und sein Kommen am Nachmittage verspricht. Sofort eile ich nach Hause zurück.

      Ich bin kaum länger als eine Stunde ausgeblieben, doch treffe ich das Haus ganz verändert an. Die Türen stehen offen, es riecht nach Medizin und Weihrauch, in dem öden Korridor mit den riesigen, aber leeren Wandschränken hängen Hüte an dem Kleiderrechen. Eben verläßt der uralte Hausarzt das Krankenzimmer, greift nach seinem feinen Panamahute, erblickt mich, erkennt mich, will mir etwas sagen, besinnt sich aber, streicht nur mit dem Handrücken eilig über das bunte, schottisch gemusterte Band des Hutes und verläßt das Haus, ruft aber noch an der offenen Entreetür: »Ich komme zurück. Ich hole ein Präparat. Bald bin ich zurück.« Ich höre jetzt, wie mein Vater sich mit halblauter Stimme unterhält. Meine Mutter kommt mir entgegen, sorgfältig angezogen, leicht parfümiert, aber mit gesenktem, geducktem Blick. »Er kommt, der Professor kommt«, flüstere ich ihr zu. »Gott sei Dank!« antwortet sie seufzend, wendet sich aber dann wieder zu der Portierfrau und gibt ihr Aufträge für Mittag. Dann wieder zu mir: »Geh jetzt zu ihm, aber vergiß nicht, was du mir versprochen hast … «

      Kapitel Neun­und­zwanzig

      Ich trete ein. Jetzt erst erblicke ich meinen Vater wirklich. Als er meiner gewahr wird, überzieht sich sein Gesicht mit heller Röte, auf seiner kahlen hohen Stirn erscheinen Schweißtropfen, und sein Mund beginnt zu lachen, der zarte weiße Schnurrbart zittert. Bei ihm, auf dem schönen Gobelinstuhl, sitzt der Notar, er hat ein Dokument auf den Knien und ein transportables Tintenfaß, wie die Studenten in der medizinischen Klinik, nahe zur Hand. Jetzt stellt er seinen Federhalter steil, damit er das Dokument nicht beschmutze, und sieht mich erwartungsvoll an, wenn auch etwas ungeduldig über die Störung. Zugleich tritt mit behutsamem Schritt unser alter Beichtvater (mein erster Lehrer im Lesen und Schreiben) ein. Er segnet mich mit seinen wunderbar graziösen, schwingenden Bewegungen, als fächle er mich. Mein Vater ist stumm. Er ist sprachlos vor Freude. Er küßt mich fest auf den Mund. Seine Wangen, die sich an meine schmiegen, sind glatt. Seine Lippen sind warm, blutvoll, lebendig. Und jetzt, als er sich mir so weit als nur möglich genähert hat, kann ich seine guten Augen leuchten sehen mit einem ruhigen, bei aller Freude gesammelten blauen Glanze, der mich immer an sich gezogen hat. Ich bin eins mit ihm, ich möchte ihn nie mehr vermissen … Daß es Ernst ist, möchte ich nicht glauben, ich will es nicht haben, es soll nicht sein. Aber wider Willen verkrampft sich mein Mund zu einer schmerzlichen Miene. Der alte Mann streicht mit der ausgebreiteten linken Hand über mein ganzes Gesicht, um es zu glätten. Dann läßt er mich, nur durch einen Blick, von den Knien erheben, stellt mich dem Notar vor, der mir, einen Kopf kleiner als ich und dünn wie ein Spazierstock, mannhaft die Hand drückt. Dann setzt er sich wieder hin und wartet. Der Abbé, der seine Obliegenheiten offenbar heute hier schon erfüllt hat, grüßt uns alle und geht.

      Der Vater weist mir einen Platz an und fährt in seinem Gespräch mit dem Notar fort. Er ist etwas befangen, schickt mich aber trotzdem nicht aus dem Räume. Er sucht zum Abschied im Geiste Güter und Gaben, um sie zu verteilen. Aber keine Reichtümer sind zu vererben. Ich sehe auch in der Ecke den alten Küraß nicht mehr, den er in früheren Jahren dem Stadtmuseum vererben wollte; in der Vitrine waren früher einmal kostbare Güter, jetzt nicht mehr; die goldenen Sporen ruhten auf weißsamtenem Kissen, nun ist der Platz leer, und