Meiner Mutter bin ich fremd, und sie ist mir fremd. Ich liebe sie nicht, ich kann sie nicht lieben und werde sie nicht lieben. Ich tue für sie, was ich kann, ich zwinge mich manchmal und bringe ihr kleine Geschenke mit, für die sie sehr empfänglich ist. Aber mehr kann ich nicht tun. Mehr ist unmöglich. Aber verlange ich nicht auch das Unmögliche vom Schicksal? Verlange ich, der an Wunder nicht glaubt, nicht vom Schicksal das »kleine« Wunder, einem alten Manne, der niemand je geschadet hat, ein paar Jahre Gesundheit wiederzugeben? Und wer verdient dies mehr als er? Wenn ich ihn jetzt anblicke und mir denke, daß er bald nicht mehr ist, dann weiß ich nicht, wie ich das ertragen soll. Wenn einer sterben soll, warum nicht lieber ich? Ich kann ihn nicht mit demselben Maße messen wie andere Menschen. Die ganze Menschheit besteht für mich aus zwei Teilen, er ist der eine, alles andere ist Rest. Er ist der liebevollste Gatte, der treueste, wenn auch schwächste Vater. Auch jetzt kein Wort für oder gegen meinen Plan und nichts mehr von standesgemäßen, nichts mehr von gottgewollten Entbehrungen.
Er ist ein Freund der Armen, selbst arm. Er hat, mit seinem Adel wie mit einer schweren Rüstung beladen, als fast willenloser Sproß eines einst machtvollen Hauses, sein Pfund nicht auf den öffentlichen Markt tragen wollen, um damit zu wuchern. Er hat mit seinen mehr als sechzig Jahren nichts erworben und nichts verloren. Was nach seinem Ende zurückbleibt, wird dank der kleinen Lebensrente aus Irland gerade ausreichen, meiner Mutter die Fortdauer ihrer jetzigen Existenz zu sichern. Ich erbe nichts davon. Ich bin mein eigener Herr und daher auch mein eigener Erbe, das weiß er ohne Worte. Er trägt mir auf, seine Ordensauszeichnungen »nachher« zurückzusenden. Sie gehören nicht ihm, werden stets nur verliehen, nie geschenkt. Eine, die wichtigste, kommt an die Kaiserliche Regierung in Wien zurück, andere an das Königliche Haus hier. Von den verschiedenen reichdotierten Ehrenstellen des Hofes, von den vergoldeten Kongonegergeschäften des merkantilen Königs hat er sich stets zurückgehalten. Dafür halten sich die meisten seiner Standesgenossen von uns zurück, nur selten betritt einer von ihnen unser Haus. Der Herzog von Ondermark hat uns seinen Sekretär geschickt, um Nachrichten über meinen Vater (und mich?) einzuholen. Er hat mich nicht angetroffen. Das war mir auch erwünschter. Ich habe während dieses kurzen Besuches geschlafen nach einer besonders schweren Nachtarbeit. Mein Vater hat mich nicht wecken lassen und hat gut so getan.
Das einzige, was er zu vererben hat, jetzt, da er sein Ende nahe fühlt, ist sein Siegelring, der von Geschlecht zu Geschlecht geht. Er trägt sonst keinen Schmuck, auch kein Atom Gold an sich, weder Ehering noch eine Uhr. Denn was bedeuten diesem Manne Schmuck und Zeit? Den Ring nimmt er nun, am 28. August 1913, um zwei Uhr, zum ersten und zum letzten Male seit der Sterbestunde meines Großvaters vom linken Zeigefinger und gibt ihn mir. Ich will ihn zurückweisen, will ihn dann, als dieses Zurückweisen unmöglich ist, in meiner Tasche verstecken, aber er sagt in einem ruhigen und gesammelten Tone, als setze er ein schon längst begonnenes Gespräch fort: »Trage du ihn. Du bist jetzt an der Reihe.« Dann schweigt er. Der Nachmittag vergeht wie immer. Der Geistliche kommt, ich gehe aus dem Zimmer. Meine Mutter hat einen Weinkrampf, sie erstickt ihn, indem sie ihr Gesicht an das hellblaue Seidenfutteral ihres Elfenbeinchristus mit aller Gewalt preßt, so daß dann auf ihren vollen Wangen die Falten der Seide abgedruckt erscheinen. Sie glättet dann lange die gerötete Haut vor dem Spiegel. Ich trete schweigend bei meinem Vater ein. Von der nahen Kirche her hört man die Glocken, später aus einer etwas entfernten Fabrik (nicht der unsern) eine schrille Sirene. Meine Mutter, die ich aufsuche, schläft erschöpft, von allen ihren Puppen umgeben. Ich kehre zu meinem Vater zurück. »Weine nicht!« sagt er nach einer Stunde zu mir. »Wie willst du denn deine Mutter trösten? Ich vertraue dir. Unser Herr und Heiland halte weiter seine Hand über dich!« Seine Blicke und seine linke Hand, die er von meinem Gesichte gelöst hat, schweben in einer sanften Kreisbewegung durch das große ärmliche Zimmer. Ich errate nicht, und ich frage nicht, ob er mein ganzes Dasein kennt und billigt, ob es ihm weh tut, daß er seinen Sohn und seine Gattin in offenkundiger Dürftigkeit zurückläßt. Er ist sehr müde, die Bewegung seiner Hand endet mit einem flüchtig und doch ernst geschlagenen Kreuz über mir, über meinen hellen roten Haaren, die seine leichte Hand nur streift. Er fährt mit seinen starken weißen Zähnen, die lebhaft aus dem lehmfarbenen Gesichte hervorleuchten und die weit auseinanderstehen, über seine herabhängende verwelkte Unterlippe – da übermannt ihn die Müdigkeit. »Ich bin etwas matt jetzt«, sagt er besonders laut, als zwinge er sich zu dieser letzten Kraftanstrengung, um dann das Recht zur Ruhe zu haben. »Gott und ich sind in Frieden. Bleibe du immer mein Sohn. Gott segne dich! Nimm die Kissen mir vom Kopfe weg, lege sie an die Füße. Du tatest es an dem Morgen, als du aus Onderkuhle kamst. Es war gut. Gut war es … « sagt er und setzt damit das Siegel unter sein Leben, seine Krankheit, seine Liebe, seinen Tod. Er nimmt, ohne mehr zu sprechen, meine rechte Hand mit ihren Brandnarben von Onderkuhle und den Schwielen von der Turbinenfabrik in seine Linke, hält sie mit sanftem Drucke fest, er legt sich dann mit dem ganzen leichten Körper über meine Hände. Er schläft unmerklich ein.
Es wird Abend, es wird Nacht. Meine Mutter ruft leise, ich antworte nicht. Sie wird still. Ich kann mich nicht erheben, mich nicht regen.
Ich kann meine Hand von der des Sterbenden nicht lösen. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, schauerlich und herzergreifend, wenn ich spüre, wie meine rechte Hand leblos wird, dann wie aufsteigend mein rechter Arm und meine Schulter das Empfinden verlieren und endlich mein ganzer Körper auf der rechten Seite eingeschlafen ist, frosterstarrt trotz dem schwülen Sommerhauche, des Lebens entwöhnt und ein Stück Tod geworden mit dem toten Vater.
Am nächsten Tage kann ich mich frei machen. Es ist ein heißer Augusttag. Mein Körper lebt und ist stark und gesund wie zuvor. Nur bin ich allein und werde es bleiben. Angst vor dem Tode werde ich nie mehr haben. Es wird mir kein Vater mehr sterben. Seinen eigenen Tod erlebt kein Mensch.
Am Abend dieses Tages gehe ich wieder in die Fabrik, da ich nicht neben meiner Mutter wachen will. Sie ist gefaßter als ich. Aber auch in ihrer größten Erregung küßt sie mich nicht. Sie wird noch in diesem Herbst zu ihrer Kusine, der unverheirateten alten Gräfin P., übersiedeln. Ich werde allein zurückbleiben. Aber der Abschied wird mir nicht schwerfallen, denn ich werde noch inniger mit meinem Vater leben, werde noch mehr in meiner Arbeit aufgehen.
Inhalt
23. Geschichte
24. Wirtschaft
25. Blick auf die brasilianische Kultur
26. Rio de Janeiro
27. Einfahrt
28. Das alte Rio
32. Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind
33. Gärten,