»Und?«
»Er hat gefragt, ob ich sicher wäre und da hab’ ich ja gesagt, weil Charly ihn ja genau beschrieben hat. Aber er hat gesagt, da kann man nichts machen, wenn ich ihn nicht selbst gesehen hätte. Und dann noch, ich soll nicht einfach jemanden verdächtigen, nur weil eine Spinnerin mir diese Idee in den Kopf gesetzt hätte. Aber Charly ist keine Spinnerin. Sie hat auch gesagt, dass Papa wieder zurückkommen würde und dann war er auch wieder da. Mama hat viel geweint in dieser Zeit, aber jetzt ist alles wieder gut.«
»Und wo ist dein Papa jetzt?«
»Noch bei der Arbeit, aber er muss bald kommen.«
»Aisha wartet auch auf ihre Mama.«
»Ja, die kommt auch ungefähr um diese Zeit. Manchmal etwas früher, manchmal etwas später, je nachdem, wie viele da sind.«
Das ist die Chance, Näheres zu erfahren. »Was macht sie eigentlich genau?«
»Hat Aisha Ihnen das nicht erzählt? Sie hat eine Schule für Bauchtanz. Sie kann das nämlich ganz toll. Hat sie von unserer Oma gelernt. Mama auch, aber sie darf das nicht machen. Papa sagt, was er verdient, reicht für uns.«
Na, die Lösung des Rätsels ist ja doch ziemlich unspektakulär, darauf hätte sie auch selbst kommen können. Zwar ist ihre Neugier befriedigt, aber zur Lösung des Falles hat dieses Gespräch nichts beigetragen und auch die weitere Befragung ergibt keine neuen Erkenntnisse. Es ist wohl am besten, ins Präsidium zurückzukehren und ein Protokoll anzufertigen, solange noch alles frisch und präsent ist.
Auf dem Weg zu ihrem Wagen, der gleich um die Ecke geparkt ist, kommt Iris ein junger Mann entgegen, breit grinsend, mit wiegenden Hüften und berührt leicht ihre Schulter. Automatisch zieht sie die Tasche eng an sich. Nordafrikaner, ist sie sich sicher. Antänzer. Entweder will er Geld oder Handy oder beides. Er will anscheinend beides, denn als er merkt, dass sie sich nicht irritieren lässt, geht er sofort aufs Ganze und versucht, die Tasche an sich zu reißen. Offenbar erwartet er keinen Widerstand von einer kleinen, zierlichen Person. So nicht mein Lieber, denkt Iris, diesmal hast du dich verrechnet. Sie packt seinen Arm, zieht ihn zu sich und bringt ihn mit einem Schulterschwung mühelos zu Boden. Dort dreht sie den Arm auf den Rücken, kniet sich auf ihn und ruft Verstärkung. Mittlerweile sind Passanten stehengeblieben, ohne Anstalten zu machen, ihr zu helfen, obwohl sie ihre Marke gezogen hat. Im Gegenteil, drei weitere junge Männer, offenbar Freunde des am Boden Liegenden, überqueren die Straße mit drohendem Gesichtsausdruck. Die Sache wird mulmig. Ohne lange zu überlegen zieht Iris die Waffe und richtet sie auf die Näherkommenden. »Sofort stehenbleiben! Polizei. Ich ziele auf die Beine. Sollten Sie sich bewegen, kann ich für nichts garantieren.«
Niemand regt sich. Die Szene ist wie festgefroren. Wahrscheinlich vergeht keine Minute, aber Iris kommt es wie eine Ewigkeit vor, bis sie das Martinshorn und gleich darauf hastige Schritte hört. Zwei Kollegen der Streife sind eingetroffen und nur kurze Zeit später hält auch ein Mannschaftswagen der Polizei.
Iris ist froh, dass die Sache so glimpflich verlaufen ist, macht sich aber keine Illusionen über den Ausgang der Sache. Ein paar Stunden später werden alle wieder auf freiem Fuß sein und ihren Geschäften nachgehen. Das ist gang und gäbe, treibt viele der Kollegen, die im Bahnhofsviertel Dienst tun, zur Verzweiflung. Dealer, vor allem aus Nordafrika und zu einem hohen Prozentsatz Asylbewerber, verkaufen in aller Öffentlichkeit ihre Drogen, begehen Taschendiebstähle, Körperverletzungen, werden festgenommen und stehen wenig später wieder am gleichen Platz. Das Misstrauen der Ordnungshüter gegenüber der Justiz nimmt immer größere Ausmaße an. Die einen fühlen sich alleingelassen, die anderen sind chronisch überlastet durch Stellenabbau und immer mehr Bürokratie, sehen zudem oft keine gesetzliche Handhabe, strenger vorzugehen. Da braut sich einiges an Konflikten zusammen.
Zurück im Präsidium holt Iris sich einen Kaffee und startet den Computer. Ihr persönliches Postfach enthält eine Nachricht von Jenny: »Ich muss mit dir sprechen. Komm bitte nicht zu spät.«
Das klingt ziemlich dringend. Augenblicklich beschließt Iris, das Protokoll auf später zu verschieben. Sie hat Herzklopfen und Pudding in den Knien. Offensichtlich ist ihre Freundin zu einer Aussprache bereit. Die schlimmsten Befürchtungen schießen ihr durch den Kopf. Jenny hat jemand Neues gefunden und will die Trennung. Jenny hat die Diagnose einer gefährlichen Krankheit erhalten. Jenny kommt mit ihrem Studium nicht zurecht und will abbrechen oder sich einen neuen Platz im Ausland suchen.
Sie findet ihre Gefährtin im Bett, zwar blass, aber mit einem Buch in der Hand. Iris atmet auf. So dramatisch kann die Situation also nicht sein, wenn sie sich für Lesestoff interessiert. Als sie allerdings den Titel sieht, kehren ihre Befürchtungen zurück: »Das tibetanische Totenbuch.« Sie setzt sich auf die Bettkante. »Was ist passiert?« Nur ein Blick von unten herauf, keine Antwort. Iris nimmt die Hände ihrer Freundin. »Bitte sag mir, was los ist, ich muss es wissen. Wenn es mit mir zusammenhängt …«
»Nein, nicht mit dir. Oder doch, irgendwie. Du wirst es mir sowieso nicht verzeihen.«
»Ich glaube kaum, dass es etwas gibt, das unverzeihbar wäre. Ich dachte, du vertraust mir.«
Wieder dieser Blick. »Ja, natürlich.«
»Also los, dann lass es raus.«
»Ich habe noch mal mit Gernot geschlafen. Nein, es ist nicht so, wie du denkst. Du weißt ja, wie schlecht es ihm damals ging. Er konnte es einfach nicht verkraften, dass ich ihn verlassen habe und schon gar nicht wegen einer Frau. Er rief immer mal wieder an, fragte, wie es mir ginge, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass sich alles nur als Irrtum herausstellen würde. Vor ein paar Wochen ließ ich mich darauf ein, ihn zu besuchen, um noch einmal über alles zu sprechen. Das war einer der Abende, wo ich wusste, dass du lange arbeiten musst. Wir haben ein paar Gläser Wein getrunken und er war so wahnsinnig unglücklich, fing an zu weinen. Ich nahm ihn in den Arm, um ihn zu trösten. Bis heute weiß ich nicht genau, wie es dazu kam, aber es passierte eben. Ich bin dann weg, sagte ihm vorher, dass ich die Sache bereue und er sich keine weiteren Hoffnungen mehr machen solle.«
Iris zögert einen Augenblick. »Na ja, begeistert bin ich nicht grade, Offenheit wäre mir lieber gewesen.«
»Zuerst wollte ich es dir ja auch sagen, habe mich aber nicht richtig getraut und es immer vor mir hergeschoben. Und dann ging es gar nicht mehr.«
Iris hebt die Augenbrauen.
»Ich wurde an diesem Abend schwanger.«
Jetzt allerdings verschlägt es ihr die Sprache. Schwanger. Von ihrem Ex. Das hat grade noch gefehlt! Sie versucht, sich das künftige Leben zu dritt vorzustellen, aber es will ihr nicht gelingen.
»Kamst du denn nicht auf die Idee, zu verhüten?«
»Nein, kam ich nicht. Weißt du, wir haben nie verhütet.«
Iris ist verblüfft. »Aber warum denn nicht?«
»Ich hatte dir ja gesagt, dass Gernot ein ganzes Stück älter ist als ich. Seine frühere Freundin wünschte sich ein Kind und er war damit einverstanden. Es klappte aber nicht. Also beschlossen sie, der Sache auf den Grund zu gehen und es stellte sich heraus, dass der größte Teil von Gernots Spermien nicht lebensfähig ist und eine Schwangerschaft an ein Wunder grenzen würde. Seine Freundin wurde tatsächlich in den sechs Jahren ihrer Beziehung nicht schwanger und ich glaube, dass dies auch der Trennungsgrund war. Als wir uns kennenlernten, verheimlichte er die Geschichte nicht und ehrlich gesagt war ich nicht unglücklich darüber. Ein Kind kam für mich zu dem damaligen Zeitpunkt überhaupt nicht in Frage und ich war froh, nicht die Pille nehmen zu müssen.«
»Aber jetzt hat sich das geändert?«
Jenny schüttelt den Kopf. »Nein. Ich bin mit dir glücklich, so wie es ist und über den Nachwuchs musst du dir auch keine Gedanken mehr machen.«
»Du hast abgetrieben?«
»Ja, heute. Und die Entscheidung ist mir nicht leicht