Ewige Stille. Astrid Keim. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Astrid Keim
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783948972011
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weshalb auch Gordon im Verborgenen zu bleiben trachtet. Ansonsten könnte man ihm den Vorwurf der Hehlerei machen – absurd aus seiner Sicht, aber so liegen die Dinge nach geltendem Recht nun einmal.

      Es ist nur eine kleine Gemeinde, die sich für alte Handschriften interessiert. Alle sind bestens ­untereinander und mit dem Geflecht der Informanten vernetzt, die im grauen Kunstmarkt ihr Auskommen finden. Selbstverständlich sind sämtliche Stücke mit Expertisen versehen, die deren Echtheit verbürgen. Unter der kleinen Zahl von Experten ist Gordon einer der angesehensten und hat nicht Schriften selbst zertifiziert. Lange Jahre des Lernens waren nötig, um die Sicher­heit zu erwerben, eine Fälschung vom Original zu unterscheiden, und immer wieder gab und gibt es bei dem einen oder anderen Objekt Zweifel. Nur wenn alle Bedenken ausgeräumt sind, stellt er die Beglaubigung aus. Diese Vorgehens­weise hat ihm große Autorität und Anerkennung eingebracht, dazu ein nicht unbeträchtliches Vermögen, das er keineswegs beabsichtigt, einer Gefährdung auszusetzen, denn offiziell verdient er seinen Lebensunterhalt mit Gutachten, Schätzungen und gelegentlichen Verkäufen aus Auktionen. Ansonsten ein gesetzestreuer Bürger, hat er nur ungern mit der Polizei zu tun, um kein Risiko einzugehen. Außerdem kann er zur Aufklärung des Mordes ohnehin nichts beitragen, denn die Kamera läuft nur in seiner Anwesenheit zur Überprüfung von Besuchern.

      Ein Blick auf die Uhr verrät ihm, dass noch genügend Zeit bleibt, um sich ein Vergnügen zu gönnen, das, so oft er es auch wiederholt, immer etwas Besonderes ist. Um sich darauf einzustimmen, nimmt er einen großen Schwenker und geht zu einem schön gearbeiteten Tisch an der Wand. Es ist ein exquisites, handgefertigtes Stück, die Beine aus Ebenholz, die Platte aus hochglanzpoliertem Vogelaugenahorn. Darauf liegt ein schmaler schwarzer Samtläufer, auf dem mehrere aufwendig geschliffene Karaffen stehen. Aus einer von ihnen gießt er sich eine kleine Menge Cognac ein, lässt das Glas kreisen, führt es dann an die Nase, um den Duft einzusaugen. Man braucht nicht viel von diesem Cognac, der in den Dreißigerjahren in einige wenige kleine Fässer gefüllt wurde und nur sporadisch, der Nachfrage entsprechend, auf Flaschen gezogen und verkauft wird. Lange wird dieser Zaubertrank nicht mehr auf dem Markt sein, umso mehr schätzen ihn seine Liebhaber, zu denen auch Gordon gehört. Er führt in eine vergangene Zeit, lässt Geschehnisse wieder auferstehen und den Herbst, in dem die Trauben geerntet wurden. Es ist dasselbe wie bei den großen, langlebigen Weinen, die zuweilen erst nach Jahrzehnten ihren Höhepunkt erreichen und von denen eine stattliche Anzahl in seinem Klimaschrank bei optimaler Temperatur und Luftfeuchtigkeit lagert.

      Vorsichtig setzt er das Glas auf den Tisch, um keine Schramme zu hinterlassen und schiebt ein kleines, als Dekoration getarntes Paneel zur Seite. Nach dem Eintippen eines Zahlencodes in die dahinter erscheinende Tastatur gleitet eine Schublade wie von Geisterhand gezogen hervor. In ihr bewahrt er jene Exponate auf, für die sich bereits feste Interessenten gefunden haben. Die Trennung von einigen Stücken fällt ihm äußerst schwer, so auch bei diesem. Gordon atmet tief ein, schließt die Augen, um sich für den bevorstehenden Anblick sammeln, und öffnet sie nach einem kurzen Moment wieder. Vor ihm liegt ein leicht gewelltes Pergament, mit vollendeten Minuskeln beschriftet. Der Großbuchstabe zu Beginn jedes Absatzes ist herrlich illuminiert mit verschlungenen Pflanzen, Blüten und Arabesken in leuchtenden Farben, vorherrschend rot, blau, grün und gold. Den größten Teil des Blattes nimmt das Miniatur­gemälde einer Jagdgesellschaft ein, die von Hunden und Dienern begleitet wird. Zwei Pferde tragen Herren in höfischer Tracht mit Falken auf ihren behandschuhten Fäusten. Sie sind nach der neuesten Mode gekleidet, mit eng anliegenden, verschiedenfarbigen Beinkleidern und knappen Wämsern, deren geschlitzte Ärmel weit herabfallen. Hinter dem Reiter des vorderen Pferdes hat eine vornehme Schönheit im Damensitz Platz genommen, deren elegantes Kleid in strahlendem Blau fast den ganzen Leib des Pferdes bedeckt. Im Hintergrund befindet sich ein herrschaftliches Gebäude, eines der Schlösser des Jean de Valois, Duc de Berry.

      Das Blatt, schon lange als verschollen geltend, stammt zwar nicht vom berühmtesten Stundenbuch, das der Herzog von den Gebrüdern Limburg erwarb, dem Très Riches Heures, sondern einem anderen, fast ebenso kostbarem Werk, dem Très Belles Heures de Notre Dame. Die hochbegabten Brüder Paul, Jean und Herman, unangefochtene Protagonisten ihrer Zunft um die Wende zum 15. Jahrhundert, illuminierten um die 300 Handschriften und wurden von dem Duc, einem jüngeren Sohn des Königs Jean II, so geschätzt, dass er sie zu Mitgliedern des Hofes machte und als begeisterter Sammler mit immer neuen Aufträgen versah.

      Nicht ohne Grund, denkt Gordon, denn weder vor noch nach ihnen wurde eine derartige Meisterschaft erreicht. Vor allem in den Stundenbüchern ist ihr überragendes Können bis heute zu bewundern. Allzu schade, dass diese große Epoche ein solch abruptes Ende fand. 1416 starben die Gebrüder Limburg und Jean de France, vermutlich an der Pest, und ein anderer Stil setzte sich durch.

      Gordon bewundert den sicheren Geschmack des Herzogs, dem größten Mäzen seiner Zeit. Er empfindet es als großes Privileg, dass ihm vor einigen Jahren erlaubt wurde, eine der außerordentlich wertvollen Plastiken zu berühren, die einst den Sockel seines Grabmals schmückten. Zu gerne hätte er sie erworben, aber der Preis überstieg seine Mittel bei Weitem. Von den ursprünglich vierzig virtuos gestalteten, trauernden Mönchen aus Alabaster wurden viele zerstört, andere gestohlen. Was übrig blieb, ist in Museen auf der ganzen Welt verstreut. Gordon erstaunte es nicht zu lesen, dass der Louvre bei der Auktion zweier Pleurants erst bei 4,4 Millionen Euro den Zuschlag bekam. Ja, der große Duc hatte nur die Besten seiner Zeit beschäftigt und sein Andenken dadurch über die Jahrhunderte sichergestellt.

      Gordon kehrt von seinem Ausflug in die Vergangenheit zurück und legt seufzend das Vergrößerungsglas zur Seite, unter dem er die feinen Striche, die exquisiten Farben bewundert hatte. Es wird Zeit ­aufzubrechen, man erwartet ihn.

      Iris ist es durchaus nicht unangenehm, etwas länger zu arbeiten, denn das lenkt vom Grübeln ab. Zum Grübeln gibt es nämlich genug. Jenny, mit der sie seit knapp zwei Jahren zusammen lebt, benimmt sich in letzter Zeit sonderbar, zieht sich zurück, gibt keine oder nur ausweichende Antworten, wenn Iris nachfragt, ob etwas nicht stimmt. Kein fröhliches Grübchen­lachen mehr, keine schwungvolle ­Umarmung beim Nachhause­kommen, keine Lust auf gemeinsames Kochen, gemeinsame Ausflüge, keine Lust auf gar nichts. Seit einem Monat geht das nun schon so und gestern fand sie ihre Lebensgefährtin weinend vor. Eine Klausur sei schief gegangen, das könne ein ganzes ­Semester kosten. Die Versicherung, es sei einfach nur der Stress des Studiums, es habe nichts mit ihr und der Beziehung zu tun, kommt ihr wenig plausibel vor. Es muss mehr dahinter stecken. Klar ist, dass etwas nicht stimmt und dass eine Aussprache ansteht. Iris hat sich für das Wochen­ende vorgenommen, ihre Freundin zum Reden zu bringen, denn so kann es nicht weitergehen. Besser, sich bis dahin mit anderen Sachen zu beschäftigen, als selbst Trübsal zu blasen.

      »Nein, es macht mir wirklich nichts aus«, wendet sie sich an Thomas, »du hast doch auch schon Arbeiten für mich übernommen, wenn ich in ­Terminschwierigkeiten war.« Sie stößt ihn leicht in die Rippen. »Los Kumpel, verschwinde. Ich halte hier die Stellung und fange schon mal mit den Befragungen an.« Mit einer ­Handbewegung scheucht sie Thomas fort, der zunächst noch zögert, dann das Angebot dankend annimmt.

      Prüfend gleiten ihre Blicke über die Hausfassade des Hinterhofs. Alle Fenster sind mittlerweile wieder geschlossen, die Sensation ist vorbei. Aus dem Augenwinkel kommt es ihr so vor, als bewege sich die Gardine am Fenster einer der Erdgeschoss-wohnungen. Sie tritt näher und bemerkt eine schmale Gestalt hinter dem Vorhang, die offenbar ihren Beobachtungsposten noch nicht aufgegeben hat. Sie überlegt kurz und pocht dann gegen die Scheibe. Irgendwo müssen die Befragungen ja ihren Anfang nehmen, vielleicht gibt es hier schon Antworten.

      Mit einem kleinen Zögern öffnet sich ein Flügel. Neun Jahre, höchstens zehn, überschlägt Iris, älter dürfte sie nicht sein. Das Gesicht ist noch ganz kindlich, aber die großen dunklen Augen blicken ernst und wissend. Neben ihr auf der Fensterbank sitzt eine schwarze Katze mit ebenso ernsthaftem, ungerührtem ­Gesichtsausdruck, bewegungslos wie eine Statue. »Die ist aber mal schön.« Iris deutet auf das Tier. »Wie heißt sie denn?«

      »Das ist keine Sie, er heißt Sam, eigentlich Samuel, aber ich nenne ihn Sam, weil das kürzer ist«, folgt die Belehrung auf dem Fuß, »und er ist der schönste Kater der Welt.«

      Iris