Ewige Stille. Astrid Keim. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Astrid Keim
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783948972011
Скачать книгу
sich Handschuhe über und berührt das Gesicht des Toten. Eiskalt. Er muss also schon länger hier liegen. Nein, korrigiert er sich sofort, er muss schon länger tot sein. Wie lange er hier liegt, ist ungewiss. Obwohl es mehr als unwahrscheinlich ist, dass jemand eine Leiche am helllichten Tag hier ablegt. Der Hinterhof ist zwar nicht sehr groß, aber es befinden sich dort noch andere Müllbehälter und auch eine Menge Fenster bieten Einblick. Die Gefahr, beobachtet zu werden ist also nicht unerheblich. Unter Berücksichtigung dieser Umstände wurde der Körper wohl nachts hierher gebracht, wahrscheinlich weit nach Mitternacht.

      Iris kommt auf ihn zu, als sein Handy klingelt. »Mein Akku war leer«, entschuldigt sich Laura, »gibt es etwas Wichtiges?«

      »Leider, ein Leichenfund im Bahnhofsviertel. Ich bin schon vor Ort und fürchte, dass es noch eine Weile dauert.«

      »Dann wirst du wahrscheinlich heute Abend keine Zeit haben?«

      »Bestimmt nicht so früh, dass ich an der Weinprobe teilnehmen kann. Die Spurensicherung ist zwar abgeschlossen, aber wir müssen im Präsidium die weitere Vorgehensweise absprechen. Vielleicht schaffe ich es noch zum Essen, aber mit dem Umziehen wird es ganz sicher nichts mehr.«

      Laura lacht. »Das sollte deine geringste Sorge sein. Erstens reichen Jeans und Jackett, so genau nimmt man es längst nicht mehr mit dem Dresscode, zweitens wird jeder Verständnis dafür haben, dass ein Polizeikommissar auf Verbrecherjagd sich nicht auch noch um sein Outfit kümmern kann. Sag kurz Bescheid, wenn du absehen kannst, ob du dabei sein kannst oder nicht.«

      Iris hat das Gespräch mitbekommen. »Du kannst ruhig zusagen, wir müssen ohnehin erst mal die Obduktion abwarten und die Identität klären. Es genügt, wenn du die Einteilung der Kollegen für die Befragung der Nachbarschaft übernimmst.«

      Sie deutet auf die rückwärtigen Fenster des vierstöckigen Mietshauses. »Vielleicht hat ja jemand etwas bemerkt. Um alles, was sonst noch anfällt, kann ich mich kümmern.«

      »Das würdest du tun?« Die Erleichterung ist Thomas anzusehen. Nur sehr ungern hätte er auf den Abend verzichtet, denn er bedeutet ihm viel. Obwohl Laura nicht mit ihm darüber gesprochen hat, weiß er doch um den Stellenwert der Weinprobe. Sie und ihr verstorbener Mann Christoph hatten regelmäßig daran teilgenommen. Dass er nun an dessen Stelle tritt, ist ein großer Beweis des Vertrauens und der Zuneigung.

      Wenn alle Jahreszeiten an einem Tag zusammen kommen, gestaltet sich die Wahl der ­Garderobe schwierig. Laura steht vor dem geöffneten Kleiderschrank und mustert dessen Bestand mit kritischem Blick. Etwas Besonderes für den heutigen Abend soll es schon sein, aber nichts Auffallendes. Ohnehin hat sie nur wenige auffallende Kleidungsstücke, die ihr ans Herz gewachsen sind, behalten und schon lange nichts mehr hinzugekauft. Schließlich muss sie der Realität ins Auge schauen, und die besagt, dass die Siebziger nicht mehr weit entfernt sind. Kaum zu glauben, sind ihr doch die Siebziger des vergangenen Jahrhunderts noch allzu gegenwärtig. Des vergangenen Jahrhunderts – wie das klingt! So, als wäre das alles schon gar nicht mehr wahr, als läge es unendlich weit zurück. Dabei kann sie sich noch allzu gut an die Miniröcke und Hotpants erinnern, die unter der Brust geknoteten Oberteile, die den Bauch freiließen – natürlich ohne BH darunter, der als Relikt spießiger Lustfeindlichkeit der sexuellen Revolution zum Opfer fiel. Hierin war sich die progressive Damenwelt völlig einig, nicht jedoch im sonstigen Erscheinungsbild. Da spalteten sich die Lager: Lila Latzhosen und sackartige Gewänder in jenem, das die Ernsthaftigkeit politischen Engagements an der Unattraktivität des Äußeren maß, und im anderen die bunten Schmetterlinge, deren Libertinage misstrauisch beäugt und deren intellektuelles Vermögen angezweifelt wurde. Laura sympathisierte mit den ­Schmetterlingen, trug aber als sichtbaren Ausdruck ihrer bitte nicht zu unterschätzenden Geistesgaben eine runde ­Nickelbrille, die etwas eulenhaftes hatte, aber auch den Eindruck eines kritischen, geschärften Blickes vermittelte.

      Was also eignet sich für eine Bordeauxprobe mit anschließendem 6-Gänge-Menü im Sternerestaurant? Jedes Jahr hatte sie mit Christoph an der Veranstaltung teilgenommen und immer war es ein Höhepunkt, auf den sie sich lange im Vorfeld freuten. Jetzt, nach seinem Tod, erhält sie weiterhin die Einladung dazu. Vergangenes Jahr hatte sie es nicht geschafft hinzugehen, alles war noch viel zu frisch und von Erinnerungen überschattet. Dieses Mal will sie die Tradition mit einem anderen Begleiter fortsetzen. Keine einfache Entscheidung und es bedurfte auch eine ganze Zeit der Zwiesprache, bis sie sicher war, dass es für ihren verstorbenen Mann kein Problem darstellt.

      Sie entscheidet sich für ein dunkelrotes Top – passend zum Wein – und eine schwarze Hose. Natürlich wäre ein Kleid eleganter, aber die Probe findet in einem eigens dafür hergerichteten Teil des Kellers statt, dessen Gewölbe noch aus dem Mittelalter stammen. Hier lagern Tausende von Flaschen aus der ganzen Welt, sorgfältig in eingepasste Regale geordnet, mit Jahrgangs- und Herkunftsbezeichnungen, jederzeit digital abrufbar. Beim letzten Besuch im Restaurant hatte der Sommelier außerdem versprochen, ihr im Vorfeld die ›Schatzkammer‹ mit den ganz besonderen Bouteillen zu zeigen, die eigentlich der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist. Zwei bis drei Stunden Aufenthalt sind also einzukalkulieren und auch, dass ihre Kälteempfindlichkeit in den letzten Jahren leider gestiegen ist. Nylons und Pumps würden unweigerlich zu kalten Füßen führen und Stiefeletten oder Stiefel zum Kleid widersprechen ihrem Stilbewusstsein.

      Ein letztes Mal betrachtet sie sich im großen Ankleide­spiegel und ist zufrieden. Zufrieden, nicht begeistert. Die Zeit kann man eben nicht zurückdrehen, daran hatte sie sich gewöhnen müssen. Kein leichtes Unterfangen, wenn man immer noch das Bild der jungen Frau im Kopf hat. Aber sie hat ihr Bestes getan: Die Haare frisch gefärbt, dunkelblond, eine Nuance heller als die ursprüngliche Farbe, dezentes Makeup, die Augen mit Lidschatten und Wimperntusche betont, Kontaktlinsen natürlich. Die Brille ist für den äußersten Notfall in der Handtasche verstaut, falls die Augen anfangen zu tränen. Zu Hause ist ihr die Brille lieber, aber zum Ausgehen will sie schön sein und bisher gab es noch keine Brille, mit der sie sich schön fand. Die modischen Gestelle mit dicker schwarzer Fassung machen ihr Gesicht hart und streng, selbst die randlose mit der ­Titanfassung – vom Optiker empfohlen als Brille, die eigentlich unsichtbar sei – empfindet sie als Fremdkörper.

      Das Oberteil, weder zu eng, noch zu weit, umspielt fließend ihre Hüften, sodass auch von der Seite weder Bauch noch Speckröllchen sichtbar sind. Beides hat sie nämlich zu ihrem Missvergnügen im Laufe der Jahre bekommen, in denen die grazile 36iger Figur zu einer fraulichen 40iger mutierte. Fraulich, dieser Begriff gefällt ihr ausgesprochen gut, seit sie ihn von einer Verkäuferin gehört hat, die fachlich perfekt auf das Klientel fortgeschrittenen Alters geschult war. Damit verbindet man die Dame in den besten Jahren, die zu ihrer femininen Reife gefunden hat.

      Um keine Schmierspuren auf den Glasrändern zu hinterlassen, hat sie auf Lippenstift verzichtet, ebenso auf Parfüm. Darauf hatte Christoph immer bestanden, in dieser Hinsicht kannte er kein Pardon. Die Erinnerung an einen vehementen Krach am Anfang ihrer Beziehung wegen eines Hauchs Chanel ist noch lebendig. Dabei war es noch nicht einmal die intensive Nummer 5, sondern die leichte, blumige 19. Auf Weinproben, so argumentierte er, sei das ein Unding. Eine Belästigung der Teilnehmenden, eine gravierende Beeinträchtigung der Geruchswahrnehmung. Damals wusste sie noch nicht, dass ihr späterer Gatte nicht nur ­Weinkenner, sondern Weinenthusiast war, der mit beeindruckender Treffsicherheit Rebsorten und Anbaugebiete, sowie Jahrgänge und Winzer zuordnen konnte. Mit einer Runde Gleichgesinnter traf er sich regelmäßig zu Blindverkostungen, um dieser Leidenschaft zu frönen. Am Anfang eine fremde Welt, erschlossen sich ihr nach und nach viele Nuancen, die einen Wein unverwechselbar machen. Er lehrte sie, dass allein schon das Bukett eine Menge über Kellertechnik und Rebsorte verrät und brachte ihr bei, spontan vergorene Weine von jenen mit zugesetzter Hefe zu unterscheiden, heraus­zufinden, ob der Ausbau im Stahltank, Holzfass oder Barrique erfolgte. Zu Beginn war ihr Interesse eher oberflächlich. Entweder ein Wein schmeckte oder nicht, weiter war sie bis dahin nicht in die Materie vorgedrungen. Aber Christoph ließ nicht locker, machte sie immer wieder auf sortentypische oder gebietsspezifische Merkmale aufmerksam, bis sich ihr nach und nach ein ganzes Spektrum erschloss. Nie brachte sie es auch nur annähernd zu seiner Meisterschaft, aber immerhin gelang es ihr im Laufe der Jahre, hin und wieder Treffer zu landen.