Ewige Stille. Astrid Keim. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Astrid Keim
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783948972011
Скачать книгу
warum hast du nicht mit mir darüber gesprochen?«

      »Ich wollte dich nicht damit belasten und denke auch, dass es gut so war. Damit musste ich allein klar kommen.«

      Beide schweigen eine Weile und hängen ihren eigenen Gedanken nach. Dann zieht Iris ihre Freundin an sich. »Wie konntest du nur glauben, dass ich dir nicht verzeihen würde? So oder so, auch bei der Entscheidung, das Kind zu behalten, hätten wir eine Lösung gefunden. Wichtig ist doch, dass wir einander lieben und zusammen bleiben wollen. Alles andere ist sekundär. Eins möchte ich aber noch wissen: Wieso das tibetanische Totenbuch?«

      »Um Abschied zu nehmen. Dort stehen Worte, die den Verstorbenen auf dem Weg ins Jenseits begleiten und vor Gefahren schützen. Es ist mir ein Trost, sie zu lesen.«

      Es ist kurz vor fünf, etwas zu früh, als Laura im Restaurant eintrifft, dem ehemaligen Salon eines Herren­hauses, malerisch auf einer kleinen Anhöhe einige Kilometer nördlich von Frankfurt im Vordertaunus gelegen. Der letzte wichtige Umbau erfolgte zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, das Haus jedoch ist wesentlich älter und geht auf eine mittelalterliche Klosteranlage zurück. Einem verheerenden Brand während des Dreißigjährigen Krieges fielen Kirche und Nebengebäude zum Opfer, das Haupthaus mit den Unterkünften, dem Dormitorium und ­Refektorium blieben jedoch erhalten, wurde säkularisiert und in den folgenden Jahrhunderten immer wieder verändert und zu unterschiedlichen Zwecken genutzt.

      Laura hat sich für ein Taxi entschieden und erreicht über eine geschwungene Auffahrt den Haupteingang, wo der Wagen halten und anschließend direkt weiterfahren kann. Ursprünglich für Kutschen angelegt, um ihnen das Wenden zu ersparen, bietet sich nun Autofahrern eine bequeme Möglichkeit, Insassen, die nicht gut zu Fuß sind, aussteigen zu lassen und dann den nahegelegenen Parkplatz anzusteuern.

      Wie jedes Mal, wenn sie hier eintrifft, bleibt sie zunächst im weitläufigen Vestibül stehen, um sich am Anblick der Kristalllüster, der Samtportieren und des Stucks zu erfreuen. Hier ist sie noch zu spüren, die Welt des Großbürgertums, dessen Einkommensverhältnisse solch einen Empfangsraum gestatteten. Mit Sicherheit wäre in früheren Zeiten sofort ein distinguierter Butler erschienen, der sich zunächst der Garderobe angenommen hätte, um dann vorauszuschreiten und die Ankömmlinge den Herrschaften anzukündigen. Nun, das ist Geschichte, heute kümmern sich Mitglieder des Servicepersonals um die Gäste. Wäre Laura später erschienen, hätte man sie sofort in Empfang genommen, aber jetzt wird noch niemand erwartet und so macht sie sich allein auf den Weg ins Restaurant. Nur wenige Schritte ist sie gegangen, als ihr bereits Johannes Lindner, der Sommelier, entgegenkommt. Ein Signalgong, der beim Überschreiten der Schwelle vor der regulären Öffnungszeit ertönt, hat ihm ihre Anwesenheit angezeigt. Die beiden kennen sich schon viele Jahre, ja, man kann sagen, sie sind zusammen alt geworden. Er arbeitet seit einer Ewigkeit in diesem Haus, ohne jemals den Drang verspürt zu haben, sich eine andere Stelle zu suchen. Auch die Stammgäste würden es als großen Verlust empfinden, nähme jemand anderes seine Position ein – genau wie Laura. Obwohl man sich nicht häufig sieht, ist ein freundschaftliches Verhältnis entstanden.

      Jetzt kommt er mit ausgestreckten Armen auf sie zu. »Wie schön, dass du wieder der Einladung gefolgt bist. Jetzt haben wir etwas Zeit, ein paar Worte miteinander zu wechseln, bevor der Sturm losbricht. Wie geht es dir?« Und gleichzeitig abwinkend: »Diese Frage brauche ich nicht zu stellen. Dein Aussehen spricht für sich. Über das Alter einer Dame zu sprechen, gehört sich nicht, aber sei versichert, dass du in deiner Liga nicht viel Konkurrenz hast.«

      »Ich würde dir das gerne zurückgeben, wenn es nicht so klänge wie: für dein Alter siehst du aber noch gut aus“, neckt sie ihn, „denn das empfinde ich nicht gerade als Kompliment.«

      »Wie kannst du nur so etwas sagen?« Er zieht sie an sich und küsst beide Wangen. »Du weißt doch, dass ich immer ein glühender Verehrer von dir war.«

      Jetzt lacht Laura laut auf. »Lass das bloß nicht André hören, sonst reicht er noch die Scheidung ein.«

      »Wird etwa von mir gesprochen?« Unbemerkt ist Johannes’ Gatte durch eine Seitentür hinzugetreten. »Was soll ich nicht hören?«

      Laura lächelt ihn an. »Alles im grünen Bereich. Es ging nur um die überaus liebenswürdige Feststellung, dass Alter und Attraktivität sich nicht notwendigerweise ausschließen müssen.«

      »Nun, das steht ja wirklich außer Frage.« Anmutig tänzelt er ein paar Schritte zurück, stützt die rechte Hand auf eine Konsole, die Linke in die Hüfte. »Allerdings muss man auch etwas dafür tun.« Er wirft den Kopf zurück, deutet auf sein Haar. »Hier fängt es schon an.« Und mit einem Augenzwinkern zu Laura: »Wie gut, dass wir zu den Menschen gehören, die niemals ergrauen.«

      »Da kann ich nur beipflichten, obwohl Christoph mir immer das Lied vom Akzeptieren des Alters sang. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um mein Äußeres zu optimieren. Wobei ich betone in meiner Macht, denn unters Messer lege ich mich bestimmt nicht.«

      »Gut, dass du das erwähnst. Ich habe nämlich manchmal das Gefühl, dass André darüber nachdenkt. Und das«, er legt seinem Partner liebevoll die Hand auf die Schulter, »hat er ja nun wirklich nicht nötig.«

      Ein merkwürdiges Paar. Laura verkneift sich mit Mühe ein Grinsen. Johannes, ein hoch gewachsener Mann, ­seinem Namensvetter Hans Albers nicht unähnlich, mit sorgfältig gescheitelten, silbergrauen ­Haaren, vermittelt in seinem tadellos sitzenden, schwarzen Anzug, an dessen Revers die goldene Traube, das Erkennungs­zeichen der Sommeliers, steckt, den Eindruck eines Gentleman der alten Schule, während André, unablässig in Bewegung wie ein Kolibri, auch dessen leuchtende Farben übernommen hat. Dunkelbraune Haare umrahmen in weichen Locken das schmale Gesicht, geschmückt von einem längst aus der Mode gekommenen Menjoubärtchen. Ein Seidenschal in sattem Violett ist um seinen Hals geschlungen und verschwindet im fliederfarbenen Hemd. Das Jackett ist weiß mit azurblauem Einstecktuch, einzig die Hosen sind als Zugeständnis an seine Position in klassischem Schwarz gehalten. Mittelgroß von Statur hat er sich eine geschmeidige Schlankheit bewahrt und ist vom Alter her kaum einzuschätzen. Wenn Laura nicht wüsste, dass das Paar gleichaltrig ist, würde sie ihn für jünger halten.

      Die beiden sind nun schon seit über acht Jahren zusammen. Es war Liebe auf den zweiten Blick. Obwohl sie sich bereits einige Jahre kannten, funkte es erst als André, letzter Abkömmling einer ehemals verzweigten und wohlhabenden Familie, nach dem Tod seiner Mutter das Anwesen übernahm. Sie hatten nun oft miteinander zu tun und kamen sich zu ihrer eigenen Überraschung, sowie dem großen Erstaunen der Mitarbeiter, näher als vermutet. Letzteren war zwar Andrés sexuelle Orientierung durch seine häufigen Besuche nicht verborgen geblieben, da er nie einen Hehl daraus machte, aber niemals hätte jemand die gleiche bei Johannes vermutet. André war es auch zuzuschreiben, dass die Beziehung öffentlich wurde, da es keinesfalls in seiner Absicht lag, sich zu verstecken. Es hatte eine Weile gedauert Johannes, der sein Privatleben konsequent abschirmte, davon zu überzeugen, dass Offenheit der bessere Weg sei, um Gerüchten von vornherein die Grundlage zu nehmen. Wie sich bald herausstellte, war die Entscheidung goldrichtig, denn ihr Ansehen wurde in keinster Weise geschmälert. Auch den Mitarbeitern wäre es im Traum nicht eingefallen, eine despektierliche Bemerkung zu machen, denn es ist ein Privileg, in diesem Haus zu arbeiten und Diskretion ist ohnehin oberstes Gebot.

      Allerdings wissen nur ganz wenige Gäste, die zum Freundeskreis zählen, von der Verbindung. Obwohl das Paar sie nicht verschweigt, wird sie auch nicht an die große Glocke gehängt, zumal ihre ­Aufgabenbereiche ohnehin unterschiedlich sind: Andrés Mutter, in deren Händen alle Fäden zusammenliefen, hatte ihren Sohn nach der Diagnose eines fortgeschrittenen Leberkarzinoms gebeten, die Geschäftsführung von Restaurant und Hotel zu übernehmen und er hatte es nicht übers Herz gebracht, abzulehnen. Keine einfache Entscheidung, denn als Geschichtswissenschaftler war er für die Redaktion des Feuilletons einer überregionalen Zeitung zuständig. Die Zusage, im Status eines freien Mitarbeiters weiter an deren Gestaltung mitwirken zu können, hatte den Ausschlag gegeben. ­Glücklicherweise blieb Zeit für eine gründliche Einarbeitung, sodass er nach dem Ableben seiner Mutter für die Aufgabe gerüstet war.

      Johannes