Die Urwälder im Hochland scheinen in ewigem Schweigen erstarrt, erst bei Einbruch der Nacht erwacht ihre verborgene Musik, gespielt von tausenden summenden Insekten. Romantischer, doch zugleich auch wilder, ist die Landschaft in den Savannen und entlang der Ufer der Flüsse. Die Schlingen der Lianen, die wie Draperien von den Bäumen hängen, versperren den Weg, wilde Orchideen blühen, hier leben die scheuen Patjieras, Kapuzineraffen balancieren auf den Ästen, Papageien stoßen ihre schrillen Schreie aus, der Jaguar lauert. Mit spitzer Zunge sucht ein Gürteltier nach Ameisen.
Seit tausenden Jahren waren Mutter Sranans dunkle Wälder unberührt und unerforscht. Sonderbare Tiere, deren Namen man im Westen kaum kennt, leben hier: Kleine Ameisenbären, Baumstachler, die Vireos, die Tanagras, die Tiegrinmans und die Blaudachse, Pfefferfresser sitzen oben in den Palmenkronen und Tagfalter schwirren umher, die glitzernd blauen Morphos, die gelben und orangefarbenen Callidryas erheben sich bis hoch in die Wipfel der Bäume.
Menschen?
Menschen, die sich an dieser Schönheit erfreuen können, gibt es kaum.
Landeinwärts leben die Warans, die Arawaks und die Kariben, schwache, vom Aussterben bedrohte Indianerstämme, machtlose Nachkommen der Urvölker, die von den Weißen aus den schönsten Orten verdrängt wurden. Im Hochland fertigen die Trios und die Ojanas Perlenketten und kunstvolles Flechtwerk, ihr feiner Tanzschmuck zeugt von einem angeborenen Sinn für Schönheit.
Ungefähr 2450 Indianer und ungefähr 17 000 Marrons, die Buschneger, über die wir später noch sprechen werden, leben hier.
Also höchstens zwanzigtausend Menschen bevölkern Sranans Landesinnere, das knapp fünf Mal so groß ist wie die Niederlande. Ansonsten tummeln sich in den Wäldern nur Agustis und Faultiere, Mandrillen, Tapire und Wasserschweine, Brüllaffen, Ameisenbären und Anakondas.
An Mutter Sranan ist die Geschichte vorübergezogen. Drei Jahrhunderte holländische Kolonisation haben ihr Binnenland unberührt gelassen, die Stromschnellen ihrer Flüsse treiben keine Turbinen an, die fruchtbaren Böden sind nicht besät, die reichen Schätze der Wälder nicht abgebaut. In bitterster Armut und in jämmerlicher Unwissenheit leben die wilden Stämme inmitten einer Natur, in der der Überfluss ungenutzt verlorengeht.
Weiße wagen sich selten in diese Wildnis, in der nur die Indianer und Marrons die Wege kennen. Entlang der Flussläufe dringt manchmal ein französischer Libéré, ein britischer Rowdy, ein holländischer Forscher ins Landesinnere vor. Sie setzen ihr Messer an die blanke Rinde der Bolletries und lassen den kostbaren Milchsaft fließen. Doch der Libéré kehrt zur Küste zurück, in seinem Whiskyrausch trinkt sich der Rowdy an einem einsamen Lagerfeuer zu Tode, der Holländer lässt sich von den Marrons in einem Kanu den Fluss hinabfahren. Die Wildnis bleibt zurück, die Wunden des Kautschukbaums verheilen, das verlassene Lager wird von Schlingpflanzen überwuchert.
Im Binnenland von Sranan findet sich nicht die leiseste Spur von holländischem Einfluss, holländischer Energie, holländischer Kultur, an keinem Weg, keiner Brücke, keinem Haus steht holländische Geschichte geschrieben. Die Weißen kannten nur die Furcht vor der Wildnis, in der die entlaufenen Sklaven Zuflucht suchten.
Einzig ein paar armselige verwahrloste Bahngleise, die ins Nirgendwo führen und niemals vollendet wurden, zeugen von einem kurzen wahnsinnigen Goldtraum.
Die weiten Flächen der Savannen, die Wälder und hohen Granitberge von Mutter Sranan schlummern seit hundert Jahrhunderten.
Für sie wurde noch keine Geschichte geschrieben.
Nur auf dem schmalen Küstenstreifen, hier und da an den Mündungen der großen Flüsse und auf den allerfruchtbarsten Alluvialböden weht das Rot, Weiß und Blau der holländischen Flagge.
Rot –
»Schauen Sie, Mutter«, sagt der kleine weiße Junge aus dem wunderbaren Buch Omdat ik zwart ben (Weil ich schwarz bin) von Madeleine Pax verwundert – »schauen Sie nur, auch die Neger haben rotes Blut!«
Weiß –
Die Farbe von Crommelins Friedensverträgen.
Und Blau? –
Ist es die Farbe unseres Tropenhimmels, zu dem wir durch die dunklen Blätter unserer Bäume aufblicken, um am funkelnden Glanz der Sterne das Versprechen für ein neues Leben abzulesen?
Nein, es ist das tiefe Blau des Atlantiks, über den einst die Sklavenbeschaffer ihre afrikanische Beute, ihre lebende Handelsware, unsere Eltern und Großeltern, in ihr zukünftiges Vaterland Sranan transportierten.
DIE ANKUNFT DER WEISSEN
»Das alte Volk, das zum eigenen Verderb gastfreundlich zu den übermütigen Männern einer spanischen Karavelle war, und zu einem Mann, der Christusträger hieß. Ein gejagtes Volk …«
Albert Helman
»Glücklich [ist] das Volk«, sagt ein französischer Schriftsteller, »das keine Geschichte kennt.«
Die Geschichte Surinames beginnt 1499 mit der Entdeckung der Wilden Küste (Guyana) durch die Weißen.
Wir wissen von Hartsinck1, wie es in jenen Tagen an der Wilden Küste aussah. Dort wohnte damals ein Indianervolk, das Herr und Gebieter über sein eigenes Reich gewesen war. »Gastfreundlich«, schreibt Wolbers in seiner Geschiedenis van Suriname (Geschichte von Suriname)2, »empfingen sie häufig Besuch von anderen Stammesgenossen, wobei sich das Gespräch immer um ihre liebkosten Passionen drehte, die Jagd und den Fischfang. Sie besaßen eine angeborene Ehrlichkeit und einen Gerechtigkeitssinn, beides findet sich in all ihren Handlungen wieder. Sie waren anständig und freundlich, was man bei unzivilisierten Völkern nicht erwartet hätte. Wenn sie Gespräche führten, dann immer ruhig und leise, nie sprachen sie verächtlich. Sie kannten den Lauf der Sterne recht gut, was ihnen beim Aufspüren der Wege durch die Wildnis von großem Nutzen war.«
Diese Schilderung stimmt noch heute mit Berichten von Entdeckungsreisenden über den Charakter ihrer Nachkommen, den Trios und den Ojanas, überein. Auch für sie gilt, dass sie bedächtige Menschen sind, bei denen heftige Gefühlsausbrüche oder unbändiges Lachen selten vernommen werden, auch bei ihnen rühmt man die großzügige Gastfreundlichkeit, den Mut und die Tatkraft. Zudem sind sie ausgezeichnete Bootslenker und vorzügliche Kenner des Urwalds. Und doch stellen sie nichts anderes dar als ein in seiner natürlichen Entwicklung gebremster Rest dessen, was einmal ein selbstständiges und glückliches Volk gewesen ist.
Was trieb die Weißen nur an diese »wilden« Küsten? Welche Berufung hat sie beseelt? Welche Botschaft, welches Glück, welche Kultur hatten sie diesem freien und glücklichen Volk zu bieten? Kamen sie, die ersten Spanier, die unsere Küste besuchten, um Guyana die Segnungen von Autodafé und Inquisition zu schenken? Brachten sie, im Namen Jesus Christus, jene Duldsamkeit, die Spanien damals Juden und Mohren entgegenbrachte, oder kamen sie mit der weißen Kultur des Rades, des Scheiterhaufens und anderer Torturen? War das die Rechtfertigung für ihre Invasion? Oder kamen sie mit dem Gelb und Rot ihrer Fahnen, um die Botschaft zu verkünden, dass Gold immer mit Blut gekauft wird?
Lassen wir die Tatsachen sprechen.
1492 entdeckte Columbus Amerika, und bald übten die übertriebenen Schilderungen vom neuen Land mit seinen Reichtümern eine unwiderstehliche Anziehung auf Europäer jeglichen Ranges und Standes aus.
Über sie schreibt Professor Werner Sombart in Der Bourgeois3:
»Eine Spielart der Seeräuberei waren die Entdeckungsfahrten, die namentlich seit dem 15. Jahrhundert häufiger wurden. Mochten bei ihnen allerhand ideale Motive mitsprechen: wissenschaftliche oder religiöse Interessen, Ehrgeiz, Abenteurerlust u.a.: die stärkste (und oft genug einzige!) Triebkraft