Jeder Mann liebt Ursula. Robert Heymann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Heymann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711503805
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      „Schuldigen, Frollein! Wie heißt die erste regierende Dynastie in Ägypten?“

      „Die Mormonen“, antwortete Ussi, ohne sich zu besinnen. Eine Dame mit fliehendem Kinn in ferner Ecke wandte Ussi ihr stark geschminktes Gesicht zu und starrte sie verständnislos an.

      „Die Mormonen?“ sagte der Karpfenmund. „Aber das sind doch die Wiedertäufer, so wat ähnliches —“

      Der Zug hielt. Der Herr sprang hoch und stürzte, über seinen Schirm stolpernd, hinaus. Ussis Lachen klang hinter ihm her. Böse schaute er dem davonsausenden Zuge nach. Ein müder junger Mensch mit rotgeränderten Augen saß jetzt neben Ussi.

      Da wanderten ihre Gedanken wieder zurück zu Peter, während ihre Augen auf der geschminkten Frau mit dem kleinen Kinn hafteten.

      Also Peter erwartet sie morgen.

      Aber das hatte doch gar keinen Zweck! Gar keinen Sinn hatte das! Wie konnte ich nur!

      Ussi war ein gradlinig denkender Mensch. Sie ließ sich nie auf Unternehmungen ein, deren Ziel sie nicht kannte oder nicht einsah. Dem Leben gegenüber, der Zukunft war sie, wie sie sich ausdrückte, „freibleibend“. Aber nie würde sie etwas tun, was gegen ihre Natur verstieß. Sozusagen aus Bequemlichkeit. Oder aus Mangel an besserer Überzeugung.

      Also wie sollte sie sich gegen Peter verhalten? Ihr Blick haftete auf zwei überlauten, überfröhlichen jungen Damen. Junge Mädels mit welken Gesichtern. Ihre Fröhlichkeit wirkte wie ein schmerzhafter Krampf.

      Plötzlich faßte jemand Ussi an der Schulter. Entsetzt rückte sie zur Seite. Der junge Mensch neben ihr war eingeschlafen. Sein Kopf war auf ihre Schulter gesunken. Dann hob er mit einem Ruck sein vom Schlaf verschwommenes Gesicht Ussi zu. Zwei übermüdete Augen, von Schatten tief umrandet, starrten sie sekundenlang an, mit Traum und Bewußtlosigkeit ringend, endlich langsam begreifend. „Verzeihen Sie ... die Müdigkeit ...“

      Ein kleiner Angestellter, der bis jetzt vielleicht gearbeitet hatte. Oder einer, der Nachtdienst hatte und jetzt schon vor Müdigkeit die Augen nicht offenhalten konnte.

      Heißes Mitleid übermannte Ussi. Ihre großen Augen suchten in dem bleichen, zermürbten Gesicht nach irgendeinem Ausdruck der Kraft. Aber nur Sorge las man, Resignation, innere Versunkenheit.

      Das Gesicht des Mannes rötete sich ein wenig: „Ich helfe bei einem Ingenieur aus, der nachts arbeitet. Er hat eine Erfindung gemacht. Aber er ist selber stellungslos ...“

      „Ihre Arbeit ist sicher sehr anstrengend“, erwiderte Ussi, nur um etwas zu sagen. Sie dachte an ihr Bett, das auf sie wartete, an ihre gutmütige Wirtin, die morgens mit dem Kaffee kam und sie dreimal weckte: „Fräuleinchen ... es ist aber jetzt wirklich die al—ler—höchste Zeit! — Gott ne, die Jugend! Wie die schlafen kann!“ Ussi hatte so etwas wie Heimatsgefühl. Diese gute Frau Arlinger, die von Mütterlichkeit überfloß ...

      „Haben Sie Familie?“ fragte sie den jungen Mann.

      Er steckte den Kopf zwischen die Schultern. „Meine Frau arbeitet auch ... wir haben uns wieder getrennt ... das hat doch keinen Sinn, so ein Leben zu Zweien ... Sie verstehen?“

      „Aber ging es Ihnen denn nie besser?“

      „Doch. Einmal schon ... ich habe das Abitur ... eigentlich bin ich noch immer Student ...“

      Student! — Wie kommt mir plötzlich diese Melodie durch den Kopf, dachte Ussi ... diese Melodie: Alt-Heidelberg, du feine ... Ach ja! Das hatte sie im Film gehört. Da war sie so gerührt von Karl Heinz, von seinem süßen Mädchen und den fröhlichen Studenten, die einen „Salamander“ um den anderen rieben ... Sie wollte noch etwas sagen, aber der junge Mann war wieder eingeschlafen. Jetzt erst fühlte sie den aufdringlichen Blick des schwammigen Gesichts, das ihr gegenüber in der Luft hing. Ihre Augen streiften seine Hände, die die Zeitung hielten, die dicken Finger, an denen die Ringe glitzerten. — Ussi verzog spöttisch den Mund.

      Da schaute er auf die Gesichter der beiden Mädchen, die so jung taten und so früh alt waren, dann zurück zu Ussi.

      Lächelte. Frech, herausfordernd. Was der Dussel sich dachte! Vielleicht: armes Mädel! Reicher Kaufmann. Leichte Liebe! —

      Ussi stand achselzuckend auf und setzte sich in die gegenüberliegende Ecke. Im Vorbeigehen sagte sie: „Doofer Affe!“

      „Frauenzimmer“, murmelte der beleidigte Herr. Die grell geschminkten kleinen Mädchen kicherten und stiegen aus. Der schlafende junge Mann fuhr mit einem Ruck hoch.

      Wittenbergplatz.

      Er stürzte hinaus. Sein heller fleckiger Mantel flatterte hinter ihm her.

      Die Bahn ratterte weiter, jagte um die Kurven.

      Woran hatte ich eigentlich gedacht? sann Ussi.

      Ach ja: Peter!

      Sonderbar: Plötzlich ist wieder alles ganz anders um Peter herum.

      Peter stand in einer Flut von Licht, das sich um sein Haupt wie ein Heiligenschein verdichtete.

      Peter! Armer, lieber, guter Peter!

      Wie er gleich losging auf diesen Kerl, der sie beleidigt hatt. Ja, so ist Peter immer schon gewesen! Sie sind doch nebeneinander aufgewachsen! Ein ganz kleiner Junge war er damals und sie ein noch viel kleineres Mädchen. Wehe aber, wenn ihr einer der Jungens etwas zuleide tun wollte. Peter war immer da. Peter schlug sich mit jedem, wenn es um die kleine Ussi ging!

      Eigentlich war Peter gar nicht mutig. Peter raufte nie, und weil die Jungens das wußten, darum reizten sie ihn oft, indem sie Ussi hänselten.

      Aber das gewöhnten sie sich plötzlich ab — nach jener Begebenheit. Jetzt noch schauerte Ussi zusammen, wenn sie daran dachte.

      Der große Helmut mit dem sommersprossigen Gesicht — wie ein einziger gelber Butterfleck sah seine Visage aus! — Ussi lachte leise vor sich hin — was wohl aus dem langen Helmut geworden ist? Helmut Krawutke! Der Vater war polnischer Arbeiter. Helmut Krawutke stellte Ussi ein Bein. Sie spielten alle zusammen auf dem Bürgersteig in der Fruchtstraße, vor dem vornehmen Haus, das mit seinem veralteten Stuck so vorgestrig zwischen den Proletarierhäusern stand. In diesem vornehmen Hause wohnte Peters Vater. Der war Baumeister oder so etwas ähnliches. Ein sehr feiner Herr, aber plötzlich war er nicht mehr da. Tot. —

      Also Helmut stellte Ussi damals ein Bein. Sie fiel hin, ihre Puppe flog im Bogen auf den Fahrdamm. Peter sah es — Peter sollte es ja sehen. Peter war einen Kopf kleiner als Helmut Krawutke, und der hatte zu seinen Kameraden gesagt: „Paßt mal uff, wie ick dem feinen Dussel auf seine Kotflügel trete, wenn er mir wat will!“

      Da war Peter auch schon ran: eine Sekunde zauderte er, ehe er angriff. Der Krawutke stand breitbeinig da und grinste über das ganze Maul weg ...

      „Mach’ dir flüssig, Peter, oder ick bring dir in Schwung!“ Im nächsten Augenblick hatten sie sich verbissen. Peter war viel schwächer, aber er stieß mit den Füßen und biß und tat wie toll. Der andre nahm ihn um die Hüften und warf ihn im Schwung auf den Fahrdamm, im gleichen Augenblick, als ein Lieferauto heranfuhr ... ein Schrei aus einem Dutzend Kinderkehlen ... atemloses Starren auf das unvermeidliche Unglück. Peter blutend und zerschunden auf dem Fahrdamm ... schon war das Auto da und über ihn weg ... Ussi sah noch jetzt im Geist die vor Entsetzen versteinerten Gesichter des Chauffeurs und seines Begleiters am Steuer ... dann eine heranrasende Menschenmauer und der davonrennende Krawutke. Aber Peter steht, nur leicht verletzt, auf. Die Menschen stehen da und schauen fassungslos auf das Wunder. Peter war so unter den Wagen zu liegen gekommen, daß das Auto über ihn wegging, ohne daß ihn ein Rad berührt hatte.

      In diesem Moment sah der blutende Peter aus wie ein Heiliger. Ussis Mutter kam angestürmt, von allen Seiten faßte man nach dem kleinen Heiligen, an dem ein Wunder geschehen war ...

      Ussi war dagestanden und hatte fassungslos geheult ... den ganzen Tag und die ganze Nacht, und am nächsten Morgen konnte sie nicht zur Schule gehen.

      Armer guter Peter! Eigentlich hatte