Es entstand ein beklemmendes Schweigen und so erklärte ich notdürftig Andreas’ Situation, ich sagte, ich müsse nach Arlanda fahren und ihn holen. Ich sah, wie das Liberale in ihr – «man muß seinen Freunden helfen» – mit dem Bürgerlichen – «man bleibt bei Tisch» – kämpfte, und wie immer gewann das Liberale.
«Natürlich mußt du fahren!» seufzte sie und brachte damit den besiegten Teil in sich zum Ausdruck.
Noch ein Abend, ein langer Abend stand ihr bevor, an dem sie angewiesen war auf sich selbst und auf das Kind, das inzwischen eifrig damit beschäftigt war, Milch über ihr Essen zu gießen.
«Hör auf damit!» protestierte meine Ehefrau und unser kleines Drama war beendet.
Ich mochte auch keine definitiven Antworten. Ich erinnere mich an damals, als Maria gefragt hatte, ob ich sie liebe. Ich hatte geantwortet «man könnte es als Arbeitshypothese in Betracht ziehen!» Zuerst war sie ziemlich blaß geworden, aber das hatte nicht lange gedauert. Sie hatte gleich darauf gelacht und erzählt, daß sie dieselbe Frage Andreas gestellt habe. «Und was hat er geantwortet?» – «Daß er gerne sein Leben für mich hingeben würde. Das Problem ist, daß ich sein Leben nicht haben will. Ich will deines!»
Andreas und sie waren sich sehr ähnlich. Beide waren gefühlsmäßig rücksichtslos und kannten keine Scham, sie betrachteten ihre Gefühle als ewig, wie momentan sie auch sein mochten. Sie hatten beide auf dieselbe geniale und erschreckende Weise keinerlei Perspektive.
Ich stand vom Tisch auf. Die Nacht war dunkler geworden, durch den Garten zog ein östlicher Wind; das war die Zeit des ersten Frühlings in den finnischen Wäldern, in denen die Frau, die meine Ehefrau wurde, aufgewachsen war, und in ihrem immer noch glücklichen Blick befand sich derselbe Glanz wie auf den Stämmen der Birken.
Ich hatte diesen Blick geliebt und ich liebte ihn immer, aber er war zunehmend seltener geworden. Wir hatten einige Tage in ihrem abgelegenen Dorf verbracht, wir waren einige Frühlingstage lang in einem Wald verborgen. Wir beobachteten, wie die Laubbäume zu knospen begannen, wie die Bäche und Wasserläufe anschwollen und kleine und große Eisklumpen mit sich führten.
Jeden Morgen unternahmen wir lange Spaziergänge und jeden Nachmittag brachte sie mir das Saunabaden bei, eine Zeremonie, die mich jedesmal an Descartes denken ließ. Er liebte es, in einem Backofen zu sitzen und nur in der Wärme des Backofens konnte er sich seinen Gedanken hingeben.
Aber ich bin nicht Descartes, ich liebte sicher auch die Wärme, aber Descartes bin ich nicht. Ich saß neben der Frau, die meine Ehefrau wurde, ich streichelte ab und zu ihre festen Beine und ich bat sie, vom Krieg zu erzählen. Hunderte von Deutschen, Finnen und Russen waren in diesen Wäldern bei harten Kämpfen gestorben, und dort verbargen nun sie und ich uns vor der Welt und wahrscheinlich auch voreinander.
«Woran denkst du?» fragte meine Ehefrau.
«Papa denkt sicher unablässig! Bekommst du davon nicht Kopfweh?» erkundigte sich meine Tochter.
«Papa ist es gewöhnt, zu denken, weißt du!» scherzte meine Ehefrau.
«Ich möchte auch gewöhnt sein!»
«Dann fang einfach an damit.»
«Was muß ich tun?»
«Schließ die Augen und versuche dich zu erinnern, wie zum Beispiel Lars vom Kinderhort aussieht!»
«Das ist nicht schwierig! Jetzt mach ich die Augen zu!»
«Na, wie sieht er aus?»
«Wie ein Pferd!»
Meine Ehefrau und ich lachten. Wir sahen uns an. Ihr Blick war scheu, ihr Blick war zerstört worden. Er wird nie mehr seine Unschuld wiederfinden; das dünne Häutchen aus Selbstvorwürfen, schlaflosen Nächten und dunklen Tagträumen wird immer zwischen ihr und mir sein wie ein Keuschheitsgürtel, dessen Schlüssel abhanden gekommen ist.
Seit der Fehlgeburt war meine Ehefrau verschlossen, scheinbar ein für allemal. Sie hatte ihre inneren Spiegel mit schwarzem Tuch verhängt, sie trauerte ganz allein und ganz still um ihre verlorene Freude. In ihr floß ein dunkles Wasser, ein unterirdischer See, und sie glitt über ihn wie ein Seeräuberschiff ohne Flagge in ihren eigenen, sorgfältig getarnten Hafen.
«Ich gehe jetzt...»
«Wird es spät werden?»
«Das kommt darauf an! Warte aber nicht auf mich!»
«Ich warte auf dich!» versicherte das Kind.
Beide würden sie auf mich warten, das Kind und die Frau, das wußte ich. Beide würden schlafen, wenn ich heimkomme, aber ihr Schlaf würde anders werden, sobald ich die Lampe im Flur entzünde und die Schuhe leise ausziehe, um sie nicht zu wecken, aber auch so laut, daß sie mein Heimkommen bemerken, wenn auch im Schlaf. Das Kind würde sich behaglich ausstrecken. Die Frau würde ihre Augen öffnen, ein bißchen wach werden und dann den Arm unter den Kopf legen und wieder einschlafen, nun beruhigt.
Was machen wir eigentlich miteinander? Schatten, Tagträume und Gewohnheiten. Was haben die Frau und das Kind aus mir gemacht? Was habe ich aus ihnen gemacht? Was habe ich aus Andreas gemacht, der jetzt vermutlich in einem fremden Zimmer auf dem Flugplatz Arlanda auf und ab ging und auf mich wartete?
Was hat Maria aus mir gemacht? Was hat sie aus Andreas gemacht? Sie, die stets dort zu sein pflegte, wo sie nicht sein sollte, aber nie dort, wo sie sein sollte! Und was habe ich aus ihr gemacht? Jedenfalls keine Gewohnheit. Diese Chance bekam ich nie. Sie ist immer rechtzeitig geflohen und das einzige Mal, wo sie nicht flüchtete, da habe ich es gemacht.
Was machen wir miteinander?
3
Ich näherte mich Stockholm von Süden, auf demselben Weg wie vor sechzehn Jahren. Damals war es in einem grünen Skoda, einem nagelneuen grünen Skoda, den Mikael der Engelsgleiche von seinem ehemaligen Liebhaber bekommen hatte. Dieser Mikael sollte drei Jahre später von einem Lastwagen zerquetscht werden, auf dem Weg von Athen nach Faliron, genau an der Stelle, wo die «Schmetterlinge der Nacht» auf die amerikanischen Soldaten des in der Nähe liegenden Stützpunkts warteten. Der Lastwagen transportierte Kondome zu dem Stützpunkt, große Kartons voller Kondome lagen auf der Straße verstreut, und die Mädchen besorgten sich soviel sie konnten. Mikael der Engelsgleiche starb umgeben von Zuhältern, Huren und Kondomen. Aber damals, vor sechzehn Jahren, war Mikael lebendig und schön wie ein Engel mit seinen blonden Locken, dem kräftigen, hochgewachsenen Körper und den dunklen Augen.
Er war ebenso lebendig wie ein Dämon und ebenso schön wie ein Engel und er beschloß, mit seinem ersten Auto eine Probefahrt zu machen, eine Probefahrt, die auf dem Marktplatz des Viertels unter den staubigen Maulbeerbäumen begann und erst 48 Stunden später in Södertälje endete.
Wir waren zu dritt in dem Auto. Mikael, Andreas und ich, und wir fuhren durch ganz Griechenland, ganz Jugoslawien, Österreich, Deutschland, Dänemark und Schweden, ohne irgendwo anzuhalten. Wir stiegen nur aus dem Auto, um zu pinkeln und um ein paar Stullen zu kaufen. Mikaels dunkle Augen glänzten vor Müdigkeit, aber er rauchte eine Zigarette nach der anderen und er fuhr mit dem kleinen grünen Skoda wie eine Furie, so als wolle er alles hinter sich lassen, vor allem fliehen, vergessen die erniedrigenden Stunden in der großen, mit Möbeln vollgestopften Wohnung am Kolonaki-Markt, wo sein ehemaliger Liebhaber seinen runzligen Körper für Mikaels engelsgleiche Gestalt und dessen dämonischem Schwert darbot.
Andreas und ich sangen die ganze Zeit und regelmäßig tauschten wir die Plätze, manchmal saß einer von uns neben Mikael, manchmal saßen wir beide auf dem Rücksitz und die ganze Zeit sangen wir, während wir ein Europa durchquerten, das sich gerade von seinem letzten Krieg zu erholen begann, und auf der deutschen Fähre hinüber nach Dänemark gelang es Mikael, zwei deutsche Mädchen auf einmal zu verführen und zu fünft lagen wir versteckt hinter dem großen Schornstein, während Andreas für die deutschen Mädchen Nietzsche deklamierte und die Ostsee wie ein grauer Wal unter uns lag. «Wenn uns jetzt der gute Adolf sehen würde», sagte er ab und zu und blinzelte