«Na?» fragte der Lehrer. «Was ist?»
«Woher weiß ich, daß ich ein Mensch bin?» fragte Andreas mit sehr klarer und ungewöhnlich eifriger Stimme.
Die meisten brachen in lautes Gelächter aus, sogar der Lehrer lachte, aber sein Lachen ging schnell über in einen Hustenanfall und als der Hustenanfall sich gelegt hatte, holte er genüßlich zum Todesstoß aus.
«Es kann natürlich sein, daß gerade du ein Esel bist!» räumte er mit der bekümmerten Stimme des erfahrenen Sadisten ein.
Neues Gelächter. Ich betrachtete Andreas, dessen sonst bleiche Wangen brennend rot angelaufen waren und der in einer Art Wut erneut die Hand hob, den Zeigefinger wie einen Dolch vorstreckend.
«Was ist denn jetzt noch?» Der Lehrer war irritiert, seine schnellen Siege – und er war an schnelle Siege gewöhnt – vertrugen keine längeren Diskussionen, der einzige Vorteil von schnellen Siegen ist, daß sie witzig sind.
«Ich bitte um Verzeihung», nahm Andreas das Thema wieder auf. «Es kann durchaus sein, daß ich ein Esel bin – wogegen ich im Prinzip nichts habe –, aber es ist wahrscheinlich, daß noch viel mehr in dieser Klasse Esel sind, nachdem sie offenbar sowohl verstehen, was Sie sagen und was ich sage, wenn ihr Gelächter auch zeigt, daß dieses Verständnis ziemlich oberflächlich ist, aber was kann man von Eseln anderes erwarten? Also, das Problem besteht nach wie vor!»
Er hatte gesprochen, ohne eine Sekunde zu zögern, die Worte waren mit klarer und eifriger Stimme aus seinem Mund gekommen. Danach packte er seine Bücher und Stifte in einen alten Arztkoffer und verließ das Klassenzimmer. Das war alles so schnell gegangen, daß der Lehrer erst reagierte, als Andreas bereits im Korridor stand. Der Lehrer wandte sich uns zu als könne er nicht glauben, was da geschehen war. Dann schrie er außer sich vor Wut:
«Wo willst du hin?»
«Ich werde gehen und meine Füße im Ilissos waschen!» rief Andreas zurück, und seine Antwort verursachte eine neue Welle von Gelächter, eine Welle, in der der hustende, hinkende, rauchende Lehrer rettungslos unterging.
Am selben Nachmittag fand ich Andreas im Park, verstrickt in ein kompliziertes Gespräch auf schulfranzösisch mit einer der Töchter aus den Alpen, deren Augen erfüllt waren von geheimnisvollen Seen und säuselnden Talwinden, deren Schoß aber leider verklebt war vom Schlamm des Calvinismus. Er beugte sich über sie, er atmete den Duft ihres blonden Haares ein und er sang leise, wobei seine Finger auf einer hypothetischen Gitarre zupften.
Si tu m’aimes
comme je t’aime
tu m’aimerais beaucoup
Die Tochter aus den Alpen lachte gerührt und verwirrt und hielt sich die eine Hand vor den Mund, während die andere gewölbt über ihrem goldenen Schnitt ruhte, dessen Existenz niemand bezweifelte außer ihr selbst. Andreas’ schwarze Augen waren nach innen gewandt, während er sang, er war stark konzentriert auf ihren Duft, auf ihre Stratosphäre, die anziehender war als das Mädchen selbst und er kämpfte begeistert darum, sich in dieser Nähe, in dieser elliptischen Bahn der Lust zu halten.
Ich zerstörte ihm alles. Ich stellte dem kleinen, adrett gekleideten Kind, das in der Nähe spielte, ein Bein, das Schweizer Mädchen stürzte zu dem weinenden Kind und Andreas erblickte mich. Ich lachte. Er schaute mich lange sehr ernst an, aber dann lachte auch er. Er erhob sich von der Bank, kam rüber zu meiner Bank, setzte sich und legte mir seinen rechten Arm um die Schulter.
«Das hast du mit Absicht gemacht!» klagte er mich seufzend an.
«Du solltest ja deine Füße im Ilissos waschen», antwortete ich.
«Und nicht auf die Jagd gehen!»
«Du bist ungebildet wie ein Esel!» seufzte Andreas noch einmal. Er grub in seiner Schultasche und fischte einen von Platons Dialogen heraus, ich weiß nicht mehr, welchen. Dort blätterte er eine halbe Sekunde und schlug dann das Buch auf, er hatte sofort die richtige Stelle und deutete auf eine Zeile mitten auf der Seite. Da stand: entweder sollten wir uns ernsthaft unterhalten oder wir sollten gehen und unsere Füße im Ilissos waschen!
Das war einer der Kraftausdrücke von Sokrates, wenn er genug hatte von den Dummheiten. Andreas klappte das Buch zu und steckte es in die Tasche.
«Das einzige Problem ist, daß es den Ilissos nicht mehr gibt!» lachte er und erhob sich.
«Ich muß jetzt gehen!» murmelte er und war schon zehn Meter weg, ich kam gar nicht auf die Idee, mitzugehen, aber kurz bevor er hinter den Akazien verschwand, die bereits blühten mit ihren gelben, wunderbar schönen Blüten, winkte er ohne sich umzudrehen, und ich kam mir idiotisch vor, als ich seinem gebeugten Rücken hinterher winkte. Aber plötzlich vollführte er eine Pirouette und lachte schallend:
«Ich weiß, wie es ist, hinter einem Rücken herzuwinken!» plärrte er.
Und genauso drang es jetzt durch den Telefonhörer an mein Ohr. Er lachte und plärrte und erzählte, er wäre auf einem Flugplatz mit dem Namen Arlanda und zwei Polizisten stünden links und rechts von ihm. Er sei bei der Paßkontrolle festgehalten worden, seine Papiere seien nicht in Ordnung, die Polizei habe den Verdacht, er wolle im Land bleiben. Er habe vergebens protestiert, aber die Polizisten hätten ihm schließlich erlaubt, anzurufen. «You may call for three crowns» habe einer der Polizisten gesagt und drei Kronen in den Automaten gesteckt.
«Was zum Teufel meint er damit?» fragte Andreas am Telefon.
«Drei Kronen sind Schwedens Symbol!» klärte ich ihn auf, um nicht in technische Details gehen zu müssen, und fuhr fort:
«Ich komme sofort. Laß mich mit der Polizei reden!»
«Wie steht es mit Maria», flüsterte ich und war fassungslos über meinen Mut, aber Andreas’ Stimme verschwand und ich hörte statt dessen eine wirre Unterhaltung auf englisch, dann wurde eine neue Münze in den Automaten geworfen und eine schroffe schwerfällige Stimme aus Norrland drang von Arlanda an mein Ohr. Ja gewiß, man würde ihn hierbehalten. Ich solle so schnell als möglich kommen.
«Sagen Sie meinem Freund, daß ich sofort komme!» schrie ich, aber der Polizist hatte bereits aufgelegt.
Das Kind stand neben mir und hielt mich am rechten Hosenbein fest. Ihre kleinen Finger, schwarz und rauh, hatten den ganzen Tag mit unbändiger Lust in Erde und Sand gegraben, hatten Puppen liebkost, mit Bällen und Spielzeugautos gespielt, krallten sich jetzt in den Hosenstoff. Sie wollte auch telefonieren, aber ich versicherte ihr, daß der Mann am andern Ende der Leitung nichts verstehen würde, worauf sie schnell und überraschend feststellte:
«Um so besser!» und schon mit dem neuen Spiel begann. Wie neu ist das eigentlich? Zu reden ohne verstanden zu werden und ohne das zu erwarten?
Ich legte auf und ich merkte, daß meine Hände zitterten. Ich hatte diese Stimme über zehn Jahre nicht gehört, trotzdem hatte ich sie sofort wiedererkannt. Andreas hatte nämlich seinen Namen nicht gesagt, er hatte geredet, als setzte er ein Gespräch fort, das vor wenigen Minuten unterbrochen worden war.
War die Zeit nur ein Traum?
Aus der Küche rief meine Ehefrau, daß das Essen warte.
«Was gibt es?» wollte meine Tochter wissen.
«Komm, dann siehst du es!» antwortete meine Ehefrau, für die eine definitive Antwort dasselbe war wie für den Fisch das Netz, eine sehr traurige Tatsache also. Aber das Kind ließ sich nicht so leicht fangen. Es war nicht so ungeheuer begierig danach, zu sehen, was es gab, es war begierig danach, zu hören, was es gab, und es rührte sich nicht von der Stelle.
«Komm, wir wollen jetzt essen!» flüsterte ich ihr ins Ohr und ich hob sie hoch in die Luft, und das Gewicht ihres Körpers vermittelte mir ein exaktes Gefühl meiner Liebe zu ihr: auf Dauer war es unmöglich, sie zu tragen und unmöglich, sie zu verlieren.
Ich konnte nichts essen.
«Wer