Bald würden die Frau oder das Kind nach mir rufen. Im Wohnzimmer sah ich einen bläulichen, unwirklichen Schein, jemand mußte den Fernseher eingeschaltet haben. Der Tisch war sicher bereits gedeckt. Ich sah vor mir zwei gleiche Teller, die einander gegenüberstanden und dazwischen einen dritten, etwas kleineren. Die Lampe über dem runden Kiefernholztisch war noch nicht angemacht, aber das würde nun gleich geschehen. Ich würde mich der Frau, die meine Ehefrau ist, gegenübersetzen und wir würden einen Augenblick warten, bis sich das Kind seine Hände gewaschen hätte, eine Maßnahme, die sich selten als zweckmäßig erwies. Das Kind würde mit allen möglichen Dingen in den Händen aus dem Bad kommen: Puppen, Schiffen, Bällen, und alles würde sie gewaschen haben, nur nicht die Hände. Dann würde das Kind Geschichten erzählen: von dem Floh, der zu einem Pfefferkuchen wurde, vom Pfefferkuchen, der zum Gespenst wurde; sie würde mit den Augen rollen vor Entsetzen und Entzücken. Ab und zu würden die Frau mir gegenüber und ich uns schweigend anblicken, ich würde Wein in ihr Glas schenken, sie würde mir den Käse reichen; das Haus um uns würde eins werden mit dem Raum in uns und in der Nacht würden wir nebeneinander liegen, die Frau mir gegenüber, die meine Ehefrau ist, und der Mann ihr gegenüber, der ich bin. Wir würden dem Geplapper des Kindes zuhören, bis es eingeschlafen ist, wir würden uns vielleicht anfassen oder wir würden es bleiben lassen.
All dies würde innerhalb der nächsten Stunden passieren und ich würde einschlafen, belagert von dem unsagbaren Wort, von dem Namen, den ich seit mehreren Jahren nicht in den Mund genommen habe. Die Belagerung dauerte nun schon lange, meine Vorräte gingen zur Neige und die Wirklichkeit machte sich davon. Ich wollte wirklich sein, aber das würde ich erst werden, wenn es mir ein anderer gesagt hat. Das war meine Bedingung: ich mußte für einen unbekannten Gott sterben, und ich mußte für unbekannte Menschen leben.
Ich stand im Garten, und die Dunkelheit um mich nahm zu. Ich war müde, ich war sehr müde, ich konnte nicht klar denken. Alle meine Gedanken wurden früher oder später zu Metaphern. Sogar die absolute Sinnlosigkeit wurde zu einer Metapher, sogar die völlige Absichtslosigkeit.
Ich war überzeugt davon, daß die Welt nicht dreidimensional ist, ich war überzeugt davon, daß es eine vierte Dimension gibt: eine Bedeutung, ein Sinnen. In Stunden selbst aufgezwungener Abgeschiedenheit bildete ich mir ein, ich könne die Welt fotografieren, ich könne einen Baum, ein Kind, einen Stein sehen, aber eigentlich betrog ich mich selbst. Ich war nie imstande, irgend etwas oder irgend jemanden auf andere Weise zu sehen als irgend etwas oder irgend jemand. Warum sollte man mich dann anders sehen können als irgend jemanden?
Ich zündete mir eine Zigarette an. Das Feuer meines Feuerzeugs, sie hat es mir einmal vor zweiundzwanzig Jahren geschenkt, setzte ein Stück Dunkelheit in Brand, aber der Sieg war nur zufällig. Rasch nahm die Nacht das verlorene Gebiet wieder ein und ich ging sang- und klanglos darin unter. In dem Moment bemerkte ich den Abendstern; er blinkte wie eine Ampel auf den Autostraßen der Galaxien.
Was geschieht eigentlich, wenn etwas geschieht? Warum fange ich bei der bloßen Erinnerung an einen Namen zu zittern an? Warum hören alle meine Träume da auf, wo sie beginnen sollten? Welcher Trost läge darin, wenn es eine Absicht gäbe, ich beneide Ptolemäus um sein Almagest, um sein geozentrisches Weltbild, in dem die Absichten ebenso deutlich sind wie ihre Konsequenzen. Aber ich lebe nicht in der Zeit des Ptolemäus, ich lebe in einer Welt, die zufällig und sinnlos zu sein scheint, obwohl mein Gewißheitsdurst sicher ebenso groß ist wie seiner.
Eine absichtslose Wirklichkeit, in der alles metaphorisch ist, das ist die andere meiner Bedingungen. Und dann dieses Sehnen, diese offensichtlich von einem Namen abhängige Sehnsucht, die mich von meinem Platz unter dem knorrigen Apfelbaum und dem Abendstern wegätzen wollte. Die Lampe über dem Küchentisch brannte jetzt. Ich hörte, wie ein Fenster geschlossen wurde, die Nacht würde kalt werden; von der Erde stiegen leichte Dunstwolken auf – nein, keine Wolken, eine Wolke muß größer sein als ein Mensch – von der Erde stiegen leichte Dunstbälle auf, die langsam nach oben schwebten, sie rollten um meine Beine, meine Hüften, meine Brust; sie belagerten mich und für einen Augenblick fühlte ich mich zugehörig, fühlte ein Dasein und meine fürchterliche Sehnsucht schwemmte mich wie ein mächtiger Gezeitenstrom fort.
Ich begann völlig bewegungslos zu tanzen und ich sang ganz stumm, umgeben von leichten Dunstbällen, und die Erde unter meinen Füßen schaukelte gewaltig. «Du darfst nicht verschwinden!» schrie ich, ohne die Lippen zu bewegen, mein Herz pochte laut und mein Kopf zerbarst in Stücke, als ich die Frau zur Küchentür herauskommen sah, sie ließ sich einrahmen von der Nacht draußen und dem Licht drinnen – das lebenslängliche Spiel –, und sie rief meinen Namen der Gestalt zu, die ich bin. Meinen Schatten spürte sie besser als sie mich spürt, aber machte ich nicht dasselbe?
Das Kind kam und stellte sich neben die Frau. Sie standen im Licht. Ich stand in der Dunkelheit. Und die nie beim Namen genannte? Wo stand sie? Ich schritt auf das Haus zu, direkt durch die Dunstbälle – das führe ich nur als Beispiel für meine Entschlossenheit an –, als das schrille Signal des Telefons das Haus sprengte, das mein Heim ist.
2
Meine Freundschaft mit Andreas war tief gewesen, wenn sie auch nicht frei war von Neid und dem Gefühl der Unterlegenheit. Schon vom ersten Augenblick an wußte ich, daß er intelligenter war und außerdem die seltene Leidenschaft für die Wahrheit besaß, seine ganze Erscheinung strahlte das Vermögen aus, lange über alles nachzudenken. Die Rastlosigkeit hatte ihn nicht ergriffen, seine Bewegungen und Gesten waren harmonisch und ruhig, ein Mensch, eingebunden in einen Kampf, der die größte Niederlage garantierte. Ein Mensch vielleicht von vornherein besiegt, aber ohne die geringste Möglichkeit auszuweichen. Kurz, Andreas gehörte zu jener geringen Zahl von Menschen, die ein Schicksal haben, seine Existenz war weder zufällig noch unabsichtlich. Der unbegreifliche Gott hatte sich einen Spaß daraus gemacht, ihn und seinesgleichen zu erschaffen. Ich gehörte nicht zu seinesgleichen, und das wußte ich. Zum erstenmal wurde ich auf ihn aufmerksam während einer Logikstunde. Wir waren sechzehn und seit Jahren in derselben Klasse und in derselben Schule, ohne uns außer bei zufälligen Gelegenheiten nähergekommen zu sein, beim Fußballspielen oder bei Spaziergängen im Park, wo wir ungestört die Schweizer Au-pair-Mädchen mit den Nestlé-Backen in Augenschein nehmen konnten, ihre weißen Schürzchen und ihre transparenten Blicke. Manchmal hatten Andreas und ich zusammen auf derselben Bank gesessen, wir hatten sicher in einigen Fällen unsere kurzzeitigen Lüste auf dasselbe Mädchen gerichtet, aber wir hatten keine besonders tiefsinnigen Gespräche geführt.
Er saß meistens da mit gesenktem Kopf, er hob den Blick nur widerwillig und nur, wenn man ihn ansprach, um ihn dann blitzschnell wieder zu senken. Ich hatte irgendwie das Gefühl, daß er sich schämte, aber weshalb? Ich frage micht nicht und ihn fragte ich auch nicht, nicht einmal später, als wir durch Ursachen und Umstände aneinander gebunden waren, die jenseits unserer Möglichkeiten lagen... oder nein, ich kann es ebensogut gleich sagen: wir waren ganz einfach beide in dasselbe Mädchen und die spätere Frau verliebt, die Frau, deren Namen ich seit mehreren Jahren nicht in den Mund genommen habe.
In der Logikstunde ging es um Syllogismen. Der Lehrer, ein hinkender, hustender und rauchender mittelalterlicher Mann mit vorspringender Stirn und die Haare ganz glatt nach hinten gekämmt – ich war mir übrigens sicher, daß seine Frisur Tarnung war, er versuchte, sich auffällig und gleichzeitig unauffällig zu machen, wie wenn einer mit den Augen rollt – der Lehrer hatte nicht viel Ahnung von Logik, er war eigentlich Philologe und zufällig dazu eingeteilt, den erkrankten Mathematiklehrer zu vertreten, der übrigens auch keine besondere Ahnung von Logik hatte. Nun war der Philologe aber ein leidenschaftlicher Anhänger von Aristoteles und weil die Erfindung der Syllogismen dem Aristoteles zugeschrieben wird, waren sie die liebsten Konserven in der intellektuellen Vorratskammer des Lehrers.
Mit nikotingelben Fingern malte er den bekanntesten und trostlosesten aller Syllogismen auf die schwarze Tafel.
Alle Menschen sind sterblich
Ich bin ein Mensch
Also: Ich bin sterblich
Es wurde totenstill in der Klasse. Ein ungutes Gefühl breitete