Todesruhe - Ein Fall für Julia Wagner: Band 2. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643077
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hamm ja keine Ahnung. Wie Tiere im Käfig. Jawohl.“

      Charlotte wischte sich mit dem Ärmel ihres Hemdes über die Stirn. Dann trat sie zum schmucklosen Schrank und öffnete ihn.

      „Könn Se mich hier rausholen?“

      „Dazu habe ich leider keine Befugnis.“

      „Ich bin nicht blöd, wissen Se. Obwohl se mich hier so behandeln, als wär ich’s.“

      Charlotte schob jede Menge muffiger Wäschestücke zur Seite und dankte Gott, dass es Latexhandschuhe gab.

      „Sie könnten ’nen Deal mit ’m Doc machen und ihm sagen, dass ich Ihnen bei den Ermittlungen geholfen hab.“

      „Dazu müssten Sie mir aber erst einmal bei meinen Ermittlungen helfen.“

      „Hab ihn gestern Abend gesehen. Im Fernsehzimmer. Wir hamm hier nämlich nur einen Fernseher“, fügte Waffenschmied hinzu, als rechne er damit, dass Charlotte ihm das nicht glauben würde.

      „Wen?“, wollte sie wissen. „Tämmerer?“

      Der Alkoholiker beugte sich etwas nach vorne. Seine Lippen zitterten unter dem zotteligen Bart. Er nickte.

      „Haben Sie mit ihm gesprochen?“, fragte Charlotte weiter.

      Wieder Nicken.

      „Und was hat er gesagt?“

      „Weiß nicht. Bin Alkoholiker. Macht die Zellen im Kopf kaputt, sagt der Doc. Bring’ Se mich hier raus?“

      „Dazu müsste Ihnen erst wieder einfallen, was Tämmerer gestern Abend zu Ihnen gesagt hat.“

      „Versprechen Se’s. Sonst sag ich nix.“

      „Ich kann Ihnen nichts versprechen, Herr Waffenschmied, aber Professor Malwik und ich werden darüber reden. Was hat Weinfried Tämmerer zu Ihnen gesagt?“

      „Fällt mir bestimmt wieder ein, wenn Se mit ’m Doc gesprochen hamm.“ Damit klappte der Alkoholiker den Mund zu, was zur Folge hatte, dass der Rest der Durchsuchung in Stille verlief.

      Das nächste Zimmer. Der nächste Patient. Sein Name war Stefan Versemann, und er sah außergewöhnlich gut aus. Groß und schlank, hatte er ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen, eine gerade Nase und einen kräftigen Zug um den Mund. Dazu blondes Haar und kluge blaue Augen hinter einer randlosen Brille – was mochte diesen Mann in die geschlossene Psychiatrie gebracht haben?

      Die meisten Menschen erwarten, dass psychisch kranke Menschen hässlich und gedrungen aussehen, dass man ihnen ihre Verrücktheit quasi schon von Weitem ansieht. Natürlich ist das ein Irrglaube, aber wer hat schon die Gelegenheit, hinter solche Mauern blicken zu können, sofern es einen nicht selbst oder jemanden aus der Verwandtschaft betrifft?

      Dieser Mann hier war auf jeden Fall wirklich schön, ein anderes Attribut kam Charlotte für ihn nicht in den Sinn.

      „Wie geht es Ihnen, Herr Versemann?“

      „Kenne ich Sie?“, gab er unsicher zurück. „Ich kenne Sie nicht.“

      „Mein Name ist Charlotte Gärtner. Ich bin von der Kriminalpolizei und muss jetzt Ihr Zimmer durchsuchen.“

      „Wegen der … Sache mit Tämmerer?“

      „Ja.“ Charlotte trat ein, gab Tech ein Zeichen und machte sich an die Arbeit.

      „Das Ganze darf aber nicht länger als fünf Minuten dauern“, sagte Versemann schnell. „Sonst komme ich zu spät zu meiner Therapie.“

      „Ich fürchte, die fällt heute aus.“

      „Oh …“ Er senkte den Blick und begann an der Kordel seiner Trainingshose zu zupfen. „Aber die Therapie ist wichtig für mich. Wenn ich sie mache, geht es mir besser.“

      Charlotte sagte: „Ich verstehe Sie. Aber hier ist letzte Nacht ein Mord geschehen. Und das ist eine sehr ernste Angelegenheit.“

      Versemann zwirbelte die Kordel noch etwas heftiger. „Natürlich.“

      „Was machen Sie eigentlich beruflich, Herr Versemann?“ Das war zwar nicht die Standardfrage, mit der Charlotte sonst begann, aber es interessierte sie.

      „Ich bin hochbegabt.“

      Charlotte seufzte und besann sich wieder auf den Grund ihres Besuches. Während Tech sich im Badezimmer zu schaffen machte, kümmerte sie sich auch hier zuerst um das Bett. „Kannten Sie Weinfried Tämmerer?“, fragte sie währenddessen.

      „Nicht sehr gut.“ Versemann hörte für einen Moment auf, mit der Kordel zu spielen, fing aber sofort wieder damit an. „Er war immer alleine. Niemand wollte etwas mit ihm zu tun haben. Weil … weil er …“

      „Pädophil war?“

      Nicken.

      „Können Sie sich vorstellen, wer ihn umgebracht haben könnte?“

      „Nein.“

      „Konnte ihn jemand ganz besonders nicht leiden?“

      „Campuzano.“ Das kam relativ flott. Dazu ein weiterer unsicherer Blick in Charlottes Richtung. „Kennen Sie Robert Campuzano?“

      „Noch nicht.“

      „Tämmerer hatte große Angst vor ihm.“

      Na, das ist doch schon mal was, dachte Charlotte. „Und warum hatte Tämmerer so große Angst vor Campuzano?“

      „Das darf ich Ihnen nicht sagen.“

      „Warum nicht?“

      Die Antwort war nicht mehr als ein Wispern: „Weil er mir dann auch wehtut.“ In der nächsten Sekunde hörte Versemann auf, mit der Kordel zu spielen, richtete sich zu voller Größe auf und sagte in ganz normalem Ton: „Und jetzt muss ich wirklich zu meiner Therapie, Frau Kommissarin.“

      In das nächste Zimmer kamen sie gar nicht erst hinein, weil ihnen eine Frau in bunten Gummistiefeln den Weg versperrte. Sie war Mitte fünfzig, mit feinem Haar, das die Farbe von stumpfem Gold hatte, ihre Augen waren auffallend bernsteinfarben, und sie knurrte wie ein Hund: „Nein!“

      „Glauben Sie mir, ich bin auch nicht scharf darauf, Frau Kirsch“, sagte Charlotte, „aber es ist mein Job.“

      Elisa bewegte sich nicht von der Stelle, hob nur einen Finger in die Höhe, der rund war wie ein Würstchen. „Ich weigere mich.“

      „Frau Kirsch, machen Sie es uns nicht …“

      „Ich habe meine Tabletten nicht bekommen. Und ich bin kein Verbrecher.“

      „Treten Sie zur Seite, ich verspreche Ihnen, es geht auch ganz schnell.“

      Elisa funkelte Charlotte nur weiter böse an, während Tech sich nervös den Finger ins Ohr bohrte.

      „Die sollen uns hier gesund machen. Jedenfalls ist das so gedacht.“

      „Frau Kirsch, wenn Sie nicht freiwillig zur Seite gehen, muss ich …“

      „Stattdessen geben sie uns das Gefühl, dass wir zu nichts zu gebrauchen sind. So läuft das hier.“

      „Hören Sie, es tut mir wirklich leid, aber hier ist ein Mörder unterwegs, und ich hab nicht ewig Zeit.“ Damit schob Charlotte die kleine Frau einfach beiseite.

      „Weshalb geben sie mir wohl meine Tabletten nicht?“, ereiferte sich Elisa hinter ihr.

      Tech machte sich auf den Weg in Richtung angrenzendem Badezimmer.

      „Ich habe keine Ahnung“, sagte Charlotte und sah sich in dem mit allerlei Nippes vollgestopften Zimmer um. Überall standen und hingen seltsame Gegenstände, jeder Zentimeter freie Fläche war bedeckt. Wünschelruten, Glockenspiele, Mobiles lagen auf dem Boden oder hingen von der Decke. Und alles in den Farben Indigo, Anthrazit, Taubenblau oder Schiefergrau. Die Vorhänge waren zugezogen und