»So, da wären wir«, riss Ms Margret ihn aus seinen Gedanken und Cam wandte den Blick schnell ab von Jules und hin zur Klassenzimmertür. »Mathematik 2 bei Mr Weatherly.«
Die Sekretärin klopfte kurz an, öffnete die Tür dann ohne eine Aufforderung abzuwarten, und trat ein. Jules, Ella und Cam folgten ihr, während Cam versuchte, sich den gleichen Enthusiasmus einzureden, den Ella und Jules versprühten.
Er dachte an Gabriels Worte vom vergangenen Abend.
Wenn das hier funktionierte, war das ein wirklich großer Schritt hin zu mehr Gleichberechtigung für Totenbändiger in London. Und das wollte er, auf jeden Fall. Also musste er das hier irgendwie hinbekommen.
»Guten Morgen, Mr Weatherly. Ich bringe Ihnen unsere drei Neuzugänge für das Abschlussjahr. Das sind Julien, Ella und Camren Hunt.«
»Oh. Ja. Wie schön.«
Mr Weatherly war ein dürrer Mann mit Nickelbrille, grauen Haaren und einer Strickweste, der seinem Aussehen nach kurz vor der Pensionierung stehen musste und das optische Klischee eines leicht zerstreuten Mathematikprofessors perfekt erfüllte. Verglichen mit Ms Margret und Direktorin Carroll wirkte das Lächeln, mit dem er Cam, Jules und Ella begrüßte, allerdings eher bemüht. Ob es daran lag, dass er generell keine Neuzugänge mochte oder nicht begeistert darüber war, ab heute drei Totenbändiger unterrichten zu müssen, war schwer zu sagen.
Während er seine neuen Schüler mit hilfloser Überforderung musterte, erinnerte Ms Margret den Kurs daran, ihre Wahlpflichtfächer bei ihr im Sekretariat anzugeben, falls sie die im neuen Schuljahr wechseln wollten, wünschte dann allen einen guten Start und verschwand.
»Bitte setzt euch.« Mit noch immer bemühtem Lächeln wies Mr Weatherly auf zwei leere Doppeltische neben den Fenstern. »Hier vorne ist noch etwas frei.«
Die Kurstische waren zu einem Hufeisen gestellt und die unbeliebten Plätze nahe des Lehrerpults waren unbesetzt.
»Danke.«
Jules begegnete der Unsicherheit seines Lehrers mit höflicher Freundlichkeit, doch als er auf die freien Tische zusteuerte, sprang ein blondes Mädchen auf, das direkt daneben saß.
Anklagend blickte sie in die Klasse. »Nee, Leute, das ist echt nicht fair! Nur weil ich als Letzte gekommen bin, soll jetzt ausgerechnet ich neben einem von denen sitzen?«
Cams Magen zog sich zusammen.
Na toll. Das ging ja schon richtig super los.
»Ehm …« Nervös blickte Mr Weatherly von ihr zu Jules, Ella und Cam. Es war offensichtlich, dass er keinen Ärger in seiner Klasse haben wollte, schien aber nicht so recht zu wissen, was er jetzt sagen sollte, um die Situation nicht eskalieren zu lassen.
Doch Jules übernahm das für ihn und schenkte seiner aufgebrachten Mitschülerin ein gewinnendes Lächeln. »Hi, ich bin Julien, aber eigentlich nennen mich alle Jules. Wie heißt du?«
Einen Moment lang war sie von dieser direkten Art sichtlich überrumpelt, dann antwortete sie: »Larissa.«
»Hallo Larissa, schön, dich kennenzulernen.« Jules ging ein paar Schritte auf sie zu, wobei der komplette Kurs ihn nicht aus den Augen ließ. »Warum möchtest du nicht, dass wir neben dir sitzen? Hast du Angst vor uns?«
Bei seiner Annäherung war Larissa tatsächlich zurückgewichen, hielt jetzt aber inne und musterte erst ihn, dann Ella und Cam abschätzend.
»Na ja, klar. Ihr könnt schließlich töten«, sagte sie dann patzig. »Einfach so. Durch Handauflegen. Oder nicht?«
Jules nickte langsam. »Es ist nicht ganz so einfach, aber ja, im Prinzip schon.« Er deutete auf ihr Federmäppchen. »Aber töten kannst du auch. Ich wette, du hast da einen Bleistift drin. Wenn du den jemandem hier im Kurs ins Auge rammst, könntest du ihn damit genauso schnell töten wie ich.«
Larissa bedachte ihn mit einem ironischen Blick. »Ja, sicher.« Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust. »Aber warum sollte ich das tun? Ich bin ja kein durchgeknallter Freak.«
Die Provokation in ihrem Tonfall war nicht zu überhören und Cams Hand krallte sich um den Schulterriemen seines Rucksacks.
Jules dagegen blieb völlig gelassen und hob bloß die Schultern. »Das sind wir auch nicht. Unsere Kräfte machen uns nicht zu unberechenbaren Monstern. Sollte ein Totenbändiger wirklich jemanden töten wollen, muss er sich dazu entscheiden und seine Kräfte gezielt einsetzen. Genauso wie andere Menschen sich auch dazu entscheiden und eine Waffe einsetzen müssen, wenn sie jemanden töten wollen. Es sei denn, sie erwürgen ihr Opfer im Affekt mit bloßen Händen. In dem Fall sind eure Hände genauso gefährlich wie unsere.« Er schenkte Larissa ein vielsagendes Grinsen.
Die wirkte noch immer skeptisch. Doch dann zuckte sie mit den Schultern, und als sie Jules erneut musterte, lag in ihrem Blick deutlich mehr Interesse als Misstrauen.
»Okay. Kapiert.«
Ella trat an einen der leeren Plätze, legte ihren Rucksack ab und wandte sich zu ihrer Klasse um. »Ehrlich Leute, wir sind nicht gefährlicher als ihr. Und wir haben uns nicht ausgesucht, das zu sein, was wir sind. Aber genau wie jeder andere Mensch können wir uns entscheiden, die Besten zu sein, die in uns stecken. Und im Moment freuen wir uns einfach nur darüber, hier zu sein, euch kennenzulernen und hoffentlich ein paar Freunde zu finden.«
Sie lächelte in die Runde und Cam sah, dass ihre Ehrlichkeit und Direktheit bei vielen gut ankamen und sich die leicht angespannte Atmosphäre, die bisher im Raum geherrscht hatte, deutlich entspannte.
Jules streckte Larissa seine Hand entgegen. »Also, vertraust du mir?«
Sie zögerte. »Keine Ahnung.« Dann lächelte sie jedoch und legte ihre Hand in seine. »Aber ich lasse es einfach mal darauf ankommen.«
Kapitel 6
Gähnend schlurfte Gabriel mit Sky, Connor und einem lebensrettenden Kaffee den Branch Hill entlang zum Eingang des Golders Hill Parks. Es war halb elf am Vormittag und nach der Nachtschicht mit dem Erledigen eines Wiedergängers und anschließender Geisterjagd an der Finsbury Park Station hatten sie kaum Schlaf bekommen und es war eigentlich noch viel zu früh für einen neuen Einsatz.
Nein, nicht eigentlich.
Definitiv.
Da half auch Grannys extra starke Kaffee nicht viel.
Aber London war ein teures Pflaster und die Überstunden brachten gutes Geld. Daher hatten er, Connor und Sky sich bereiterklärt, den Beobachtungen einiger besorgter Mitbürger nachzugehen, die gemeldet hatten, dass seit einigen Wochen mehr Geister als üblich in der Dämmerung in und aus dem Park strömten.
Geister hassten Tageslicht und sobald der Morgen graute suchten sie Orte auf, die dunkle Verstecke boten. Da in der Stadt aber viele Gebäude mit Eisen geschützt wurden, blieben den Seelenlosen oft nur die Parks, um sich in Erdlöchern, leeren Tierbauten, hohlen Bäumen und ähnlichem zu verkriechen. Tagsüber waren Parks ungefährlich, außer es wurde im Winter nicht richtig hell oder es herrschten Nebeltage. Dann war es ratsamer, die Grünanlagen zu meiden. Genauso wie abends, wenn es dämmerte und die Geister aus ihren Verstecken in belebtere Gebiete zogen, um sich Lebensenergie zu beschaffen. Oder morgens, wenn sie in ihre sicheren Unterschlupfe zurückkehrten.
Aus diesem Grund waren die Straßenzüge rund um die Londoner Parks keine allzu beliebten Wohngegenden und Häuser standen dort häufig lange