»Es gab im letzten Unheiligen Jahr schon einmal den Fund von Leichen mit durchgeschnittenen Kehlen«, übernahm Gabriel. »Der Täter wurde nie gefunden. Vielleicht ist er in diesem Unheiligen Jahr zurückgekehrt.«
Pratt runzelte die Stirn. »Es gab schon einmal einen solchen Leichenfund? Hier in Camden? Warum weiß ich davon nichts?«
»Es war nicht in Camden«, schaltete sich Thaddeus ins Gespräch ein. »Es war drüben in Wimbledon und die Sache wurde damals unter Verschluss gehalten. Zum einen, um die Bevölkerung in einem Unheiligen Jahr nicht noch nervöser zu machen als viele Mitbürger es ohnehin schon waren, zum anderen, weil es einen Zeugen gab, der beschützt werden sollte.«
Pratt lehnte sich in seinem Rollstuhl zurück. »Okay, was genau ist damals passiert? Und welche Parallelen gibt es zu dem Fund von heute?« Er nahm Thaddeus ins Visier. »Ich schätze, Sie waren damals einer der Ermittler?«
Thad nickte. »Ich habe die Leichen gefunden.«
»Erzählen Sie.«
»In der Nacht des Frühlingsäquinoktiums vor dreizehn Jahren ging um kurz nach Mitternacht der Notruf eines Jugendlichen in der Zentrale ein. Er flüsterte nur und war kaum zu verstehen. Keuchte, dass alles voller Toter wäre. Dass seine Freunde auch tot wären. Das pure Böse hätte sie umgebracht und jetzt wäre es hinter ihm her. Er klang völlig neben sich und reagierte auf keine Frage der Notrufleitstelle. Im Hintergrund war ein Lachen zu hören, dann brach der Anruf abrupt ab, ohne dass die Leitstelle eine Adresse oder andere hilfreiche Informationen erhalten hatte. Im Gegenteil. Es klang eher wie einer der typischen Scherzanrufe von zugedröhnten Teenagern, die in Unheiligen Nächten Partys veranstalten und dann nichts Besseres zu tun haben, als gefakte Notrufe abzusetzen. Die Leitstelle konnte aber das Handy orten. Die Adresse war ein abgelegenes, leer stehendes Haus am Wimbledon Park. Und auch wenn wir in der Nacht eigentlich mehr als genug zu tun hatten, war ich in der Nähe auf Wachdienst und bin vorbeigefahren. Wenn Jugendliche als ultimativen Adrenalinkick in einem ungeschützten Haus besoffen und bekifft eine Geisterparty feierten, war das lebensgefährlich.«
»Aber es gab keine Geisterparty«, schloss Pratt.
Thaddeus schüttelte den Kopf. »Als ich dort ankam, war das Haus dunkel und verlassen. Der Junge, der den Notruf gewählt hatte, lag mit aufgeschlitzter Kehle im Vorgarten. Sein Handy lag neben ihm. Seine beiden Freunde fand ich im Erdgeschoss. Ebenfalls mit durchgeschnittenen Kehlen. Der wahre Horror wartete aber im Keller. Dort stapelten sich die Leichen.«
Er deutete mit einem Kopfnicken zu den Fotos, die Connor gemacht hatte. »Ganz ähnlich wie im Tunnel. Auch ihnen hatte man die Kehlen durchgeschnitten und sie wirkten wie achtlos weggeworfen. In der Mitte des Raums standen sechs Holzkisten in einem Kreis und jede war umgeben mit einem Ring aus einer dicken Eisenkette. In diesen Ringen war jede Menge Blut und in den Kisten lagen Kinder.«
Bei der Erinnerung daran, presste Thad kurz die Kiefer aufeinander, bevor er weitersprach. »Es waren drei Mädchen und drei Jungen. Alles Totenbändiger und keins der Kinder war älter als fünf Jahre. Alle hatten Nasenbluten, schienen außer Kratzern und blauen Flecken sonst aber unverletzt. Doch sie waren alle tot.«
Thaddeus schwieg und kämpfte offenbar mit Erinnerungen, die kein Mensch haben sollte.
Auch Pratt schwieg einen Moment, um das Gehörte sacken zu lassen. Dann blickte er zu Gabriel und Sky. »Das klingt so, als hätte dort jemand mit Totenbändigerkindern experimentiert.«
Gabriel nickte finster. »Wir denken, dass sich jemand einen kranken Spaß daraus gemacht hat, zu testen, wie viele Geister die Kinder bändigen können, bevor sie sterben.«
Pratts Miene verriet deutlich, was er davon hielt. »Es tut mir sehr leid, was einige unserer Mitmenschen euch Totenbändigern immer wieder antun.«
»Danke, Sir«, antwortete Sky.
»Habt ihr eine Vermutung, was der Täter mit den Kindern und den Toten gemacht hat?«
»So wie Thad den Tatort beschrieben hat, scheint der Täter die Kleinen in die Kisten gesperrt zu haben, damit sie den Geistern nicht entkommen können«, sagte Sky. »Und er hat Eisenketten um die Kisten gelegt, um selbst vor den Geistern sicher zu sein. Dann hat er vermutlich eins der Opfer in den Kreis gebracht und ihm die Kehle durchgeschnitten. Das erklärt das ganze Blut innerhalb der Ketten.«
»Sobald ein Opfer verblutete war, entstand ein Geist«, übernahm Gabriel. »Normalerweise würde der bei dem Opfer bleiben, um seine Energie aufzunehmen, bis die Leiche kalt ist …«
Die Lippen, des Commanders wurden zu einem dünnen Strich, als er sie voller Abscheu zusammenpresste und kurz die Augen schloss. »Aber nicht, wenn ein Kind in der Nähe ist«, beendete er den Satz und schüttelte angewidert den Kopf.
Gabriel nickte knapp. »Kein Geist kann einem Kind widerstehen.«
Pratt blickte von ihm zu Sky. »Ich weiß, das ist jetzt eine indiskrete Frage und ihr müsst nicht antworten, wenn ihr das nicht wollt.«
Sky seufzte innerlich, weil sie sich denken konnte, was jetzt kam. Sie war nicht besonders glücklich darüber, sich und ihre Kräfte immer wieder erklären zu müssen, und die Art, wie sie antwortete oder ob überhaupt, hing sehr stark davon ab, wie man sie fragte. Generell fand sie ehrliches Interesse und offenes Nachfragen aber besser als Spekulationen, Hörensagen oder falsche Unterstellungen. Und Pratt war ihr Boss. Er hatte immer mal wieder Fragen zu ihren Kräften. Oder zu denen von Geistern und Wiedergängern. Meistens standen sie in direktem Zusammenhang mit Fällen, an denen sie arbeiteten. Hatten seine Fragen nur indirekten Bezug dazu, stellte er ihr und Gabriel jedes Mal frei, zu antworten, doch bisher waren seine Fragen für Sky immer in Ordnung gewesen.
»Was wollen Sie wissen?«
»Wie ist das für euch Totenbändiger? Könnt ihr nachvollziehen, dass Geister sich so gerne auf Kinder stürzen? Gibt es Unterschiede zwischen der Lebensenergie eines Erwachsenen und der eines Kindes?«
Sie nickte. »Die Lebensenergie von Kindern ist reiner und unschuldiger, wilder und ungestümer als die von Erwachsenen. Wahrscheinlich, weil ihre Lebensfreude noch nicht getrübt ist. Kinder sind das pure Leben, vor allem, wenn sie noch sehr jung sind. Das macht sie für Geister so anziehend. Diese unbändige Energie verleiht ihnen besonders schnell besonders viel Stärke.«
Pratt betrachtete sie nachdenklich. »Und ihr könnt diese Energien auch so differenziert wahrnehmen? Bei allen euren Mitmenschen?«
»Nur bei Kontakt. Direkter Hautkontakt funktioniert am besten.« Auch wenn Gabriel den meisten Menschen liebend gern an den Kopf geworfen hätte, dass es sie nichts anging, wie seine Kräfte funktionierten – immerhin fragte er sie ja auch nicht, wie zur Hölle sie in ihrem Leben ohne klarkamen – gab er ähnlich wie Sky meistens trotzdem Auskunft. Oft ließen sich Angst und Vorurteile mit Offenheit, Nachsicht und Geduld aus der Welt schaffen. Das hatten seine Eltern ihm beigebracht. Allerdings gelang es ihm nicht immer, Verständnis oder Geduld aufzubringen. Bei manchen Mitmenschen versagte einfach beides. Sein Commander hatte sich jedoch schon mehr als einmal seinen Respekt verdient, deshalb beantwortete Gabriel ihm in der Regel seine Fragen.
»Aber selbst bei Hautkontakt müssen wir die Verbindung zur Lebensenergie des anderen erst suchen«, ergänzte Sky. »Das passiert nicht einfach so. Beim normalen Händeschütteln zum Beispiel oder bei einem zufälligen Anrempeln in einer Menschenmenge spüren wir nicht mehr als andere Menschen. Zum Glück. Sonst wäre der Alltag ziemlich anstrengend.«
»Aber sobald ihr diese Verbindung zur Lebensenergie eines anderen hergestellt habt, könnt ihr ihm seine Energie nehmen, richtig?«, hakte Pratt nach.
Wieder nickte Sky. »Ja. Wenn wir ihm die Energie langsam nehmen, wird der Mensch schwächer, kann sich aber noch dagegen wehren und den Kontakt unterbrechen. Dann regeneriert seine Energie sich und er erholt sich wieder. Reißen wir die Energie aber schnell und komplett aus ihm heraus, stirbt er. Meistens sieht es dann wie ein Herzinfarkt oder