Fünftes kapitel
Die Herren von der Polizei begaben sich ebenfalls zu Tisch, nur Dr. Bär blieb noch eine geschlagene Stunde in der „Villa Mabel“, während Fels und die anderen Journalisten in ihre Redaktionsbureaus stürmten, um die ersten Sensationsartikel über den „Mord im Cottage“ in Druck zu geben.
Schon um halb zwei waren die Herren von der Polizei, mit Ausnahme des Polizeipräsidenten, der sich von jetzt ab nur mehr in seinem Bureau Bericht erstatten ließ, in der „Villa Mabel“ versammelt, aber Dr. Bär erklärte die weitere Voruntersuchung für geheim, so daß die Journalisten nicht mehr anwesend sein durften. Die offizielle Polizeikorrespondenz schickte den Redaktionen mehrmals täglich Berichte über alle weiteren Ergebnisse, selbstverständlich blieb es aber den einzelnen Reportern unbenommen, auf eigene Faust Recherchen anzustellen und sich bei der Polizei nähere Informationen zu holen.
Kurz vor zwei Uhr ließ der Kriminalkommissär abermals Dr. Holzinger in das Bibliothekzimmer bitten. Gleich hinter ihm traten ein junger Bursch und ein älterer Mann ein. Dr. Bär erklärte die Situation:
„Ich habe die beiden Kellner aus dem ‚Grabencafé‘ holen lassen, die gestern nachts dort Dienst hatten.“ Und zu den beiden Kellnern gewandt: „Bitte, diesen Herrn genau anzusehen und auszusagen, ob Sie sich entsinnen können, ihn gestern nachts zwischen ein und halb zwei Uhr bedient zu haben.“
Die Kellner musterten Holzinger lange und genau, dann erklärten beide achselzuckend, ihn nicht wieder zu erkennen. Allerdings fügte der Zahlkellner hinzu, daß der Besuch im Café sehr lebhaft gewesen sei und er die Gäste, falls nicht ein besonderer Grund hiezu vorliege, nicht näher anzuschauen pflege. Damit waren die Kellner entlassen und Bär wendet sich nun direkt an Holzinger, dem es immer schärfer zum Bewußtsein kam, halb und halb schon die Rolle eines Angeklagten zu spielen:
„Ihre Angabe, daß Sie gegen zwei Uhr nach Hause gekommen seien, läßt sich von mir nicht überprüfen, da Sie ja einen eigenen Hausschlüssel haben. Ihre Frau Mutter aber kann nur aussagen, daß Sie spät gekommen sind, ohne zu wissen, wie spät es war. Sie haben vormittags auf meine Frage mit aller Entschiedenheit erklärt, die Eingangsschlüssel zur ‚Villa Mabel‘ nicht zu besitzen. Eine eben bei Ihnen vorgenommene Hausdurchsuchung widerlegt diese Behauptung. Der Beamte hat in der obersten Schublade Ihres Wäscheschrankes diese beiden durch einen Ring zusammengehaltenen Schlüssel gefunden, die nichts anderes sind, als die Schlüssel zum Gartenportal und zum Haustor der ‚Villa Mabel‘.“
Dr. Holzinger fühlte den Boden unter sich schwanken und Leichenblässe zog über sein verstörtes Gesicht. Er atmete tief auf, stierte wie geistesabwesend vor sich hin, fuhr sich mit der Rechten über die feuchte Stirne und erwiderte dann tonlos:
„Jetzt, wo es zu spät ist, erinnere ich mich natürlich. Vor anderthalb Jahren, als an den Börsen enorme, den ganzen Anlagemarkt erschütternde Kursschwankungen auftraten, hatte ich mehrmals hintereinander hier im Hause bis in die frühen Morgenstunden gearbeitet, depeschiert und telephoniert. Herr Langer, der die Dienerschaft nicht so lange wachen ließ, hatte mich, wenn ich endlich gehen konnte, bis auf die Straße begleitet, als es aber einmal heftig regnete, gab er mir die Schlüssel mit der Bemerkung, ich möchte sie für künftige Fälle behalten. Nach einigen Tagen, als meine Arbeitszeit wieder normal war, legte ich den Schlüsselbund in den Wäscheschrank, wo ich ihn vollständig vergessen habe.“
Ernst und fast feierlich sagte nun der Kriminalbeamte:
„Herr Doktor Holzinger, Ihre Erklärung ist plausibel, aber nicht überzeugend. Sie werden als juristisch gebildeter Mensch selbst zugeben müssen, daß viele, sehr viele Momente gegen Sie sprechen und mir nichts anderes übrig bleibt, als Ihre Verhaftung vorzunehmen. Erleichtern Sie sich, wenn Sie die Tat begangen haben oder mit ihr in Verbindung stehen, durch ein Geständnis.“
Holzinger hatte sich wieder gefaßt. Hoch und fast stolz aufgerichtet gab er die Antwort:
„Ich schwöre bei dem Leben meiner alter Mutter und meiner armen Braut, daß ich unschuldig bin.“
Bär schaute ihm bei diesen Worten tief in die Augen, wechselte dann einen Blick des Einverständnisses mit dem Chef der Sicherheitspolizei und sagte mit milder, gütiger Stimme:
„Ich wünsche von ganzem Herzen, daß Ihre Unschuld bald voll und ganz erwiesen ist und bitte Sie, überzeugt davon zu sein, daß ich jede, auch die geringste Spur, die zu Ihren Gunsten sprechen kann, aufgreifen werde, um Ihnen die Freiheit wieder zu geben. Vorläufig müssen Sie sich in das Unvermeidliche schicken.“
Ein Wink und ein bereit gestandener Beamter ging mit Holzinger ab, um ihn der Haft zuzuführen. Kaum eine Minute später aber sauste ein mächtiges Tourenautomobil durch die Kastanienallee und hielt vor der „Villa Mabel“. Über und über mit Kot bespritzt, blaß und ermüdet, entstieg ihm Herr August Langer, der Multimillionär, dessen Gattin und Schwägerin vor kaum zwölf Stunden durch Mörderhand vom Leben zum Tode befördert worden waren.
Sechstes kapitel
Trotzdem es Mitternacht war, herrschte im „Café Central“ lebhaftes, lustiges Leben, alle Tische waren besetzt und im sogenannten „Arkadenhof“ saß wieder die ganze Wiener Bohème beisammen, die eigentlich keine ist, weil sie sich zum größten Teile aus saturierten, dem Kampf und Drang entwachsenen Künstlern, Schriftstellern und ästhetisierenden Lebejünglingen zusammensetzt. An einem Tisch saß in großer Gesellschaft, mit einem schönen, schlanken, brünetten Mädchen zur Seite, Oskar Fels, der heute mehr noch als sonst im Mittelpunkt des Interesses stand, weil das Gespräch von dem sensationellen Mord im Cottage ganz beherrscht wurde. Fels, der abgespannt und erregt erschien, hatte aber keine Lust, viel zu erzählen. Seine Freundin Alma Mia, in Wirklichkeit Mizzi Schoberlechner, eine vielumworbene und zukunftsvolle Schauspielerin des Volksspielhauses, ließ nicht locker und wollte mit aller Gewalt wissen, ob der „arme Holzinger“ wirklich der Mörder sei. Da auch der Direktor des Volksspielhauses, Herr Büxel, und seine sehr kleine, sehr schicke und lebenslustige Frau durchaus Näheres erfahren wollten, erklärte Fels schließlich lachend:
„Ich halte den Holzinger für so unschuldig wie ihr es seid, und bin fest überzeugt davon, daß mein Freund Bär eine kapitale Dummheit gemacht hat, die dem Staate viel Geld kosten wird, weil ja nach unseren neuen Gesetzen der Staat einem unschuldig eines schweren Verbrechens bezichtigten Menschen für jeden Tag der Haft fünfzig Kronen zu bezahlen hat. Jetzt gebt mir aber Ruhe und haltet euch an Bär selbst, der gerade kommt.“
Richtig kam Dr. Bär frisch und elastisch, als hätte er einen Tag voll Ruhe hinter sich, an den Tisch. Natürlich wurde er mit Fragen nur so bombardiert. Die kleine Frau Direktor versicherte ihm, daß sie kein Wort mehr mit ihm sprechen würde, wenn er einen Unschuldigen hatte verhaften lassen, und Alma Mia schwur, während sie ihre Zigarette feierlich erhob, daß sie den armen Holzinger unbedingt durch ihre Gunst, wenn auch nur für eine Nacht, entschädigen wollte. Alles lachte, der Kriminalkommissär erklärte trocken, daß er unter solchen Umständen Holzinger, ob schuldig oder unschuldig, im Kerker verschmachten lassen werde, dann aber zupfte er Fels am Ohr und bat ihn, sich auf ein Viertelstündchen mit ihm zurückzuziehen. Alles Protestieren der Herren und Damen blieb fruchtlos, die beiden setzten sich an einen kleinen Tisch, an dem sie ungestört waren, und aus der angekündigten Viertelstunde wurde eine ganze, bevor sich Fels wieder seiner höchst erbosten und schmollenden Alma widmen konnte.
Dr. Bär und Oskar Fels waren seit vielen Jahren miteinander bekannt und durch drei gemeinsame Kriegs- und Kampfjahre zu guten, aufrichtigen Freunden geworden. Beide waren, als der Weltkrieg ausgebrochen war, als Reserveleutnants zum selben Regiment eingerückt, beide standen in derselben Kompagnie, hatten dieselben Rückzüge und Siege, dieselben Gefahren und Entbehrungen mitgemacht, beide dieselben hohen Tapferkeitsauszeichnungen erhalten, bis beide fast am selben Tage ins Hinterland zurückberufen wurden, der eine auf Reklamation der Polizeidirektion, der andere auf Eingabe der „Weltpresse“. Und ganz abgesehen von diesen großen Erlebnissen, hatte einmal Fels seinen Freund, der bereits in Gefangenschaft geraten und