Fast alle der Anwesenden nickten bei diesen Worten verständnisvoll und Dr. Bärs Blick kreuzte sich mit dem des Journalisten Fels. Wieder einer der Zehntausende von Fällen, in denen dieser unglückselige Krieg Hoffnungen vernichtet, Pläne zerstört, Existenzen geknickt hatte! Dr. Holzinger fuhr fort:
„Nach vielen Wochen vergeblichen Suchens fand ich durch ein Inserat schließlich die Stellung, die ich seit zwei Jahren bekleide. Ich wurde Privatsekretär des Herrn Langer.“
„Welchen Gehalt beziehen Sie?“
„Ich trat mit fünfhundert Kronen ein, erhielt zweimal Aufbesserungen und habe jetzt sechshundert Kronen monatlich. Diese Stellung füllt meine Zeit nicht ganz aus, da ich für Herrn Langer im allgemeinen nur von elf Uhr bis zum Mittagstisch, also gegen zwei Uhr, tätig bin. Ich versuchte, da ich nicht wagte, mit einem solchen Einkommen bei der anhaltenden Teuerung einen Hausstand zu gründen, dies um so weniger, als ich meine Mutter unterstützen muß, irgend eine weitere Beschäftigung zu finden, aber dies ist mir bisher nicht gelungen.“
„Welcher Art war eigentlich Ihre Tätigkeit bei Herrn Langer?“
„Herr Langer, dessen Bureau sich in der Hegelgasse befindet, ließ mich hier bei ihm zu Hause seine private Vermögensverwaltung besorgen, die recht komplizierter Natur ist, denn einerseits handelt es sich um einen nach vielen Millionen zählenden Besitz, andererseits sind die Gattin und die Schwägerin des Herrn Langer die Teilhaberinnen dieses Vermögens, ohne die keinerlei Transaktion oder Neuanlage vorgenommen werden darf. Es müssen bei jedem Schritt ihre Unterschriften eingeholt werden. Außerdem führe ich die Privatkorrespondenz, soweit sie nicht rein persönlicher Art ist.“
Dr. Bär stützte jetzt die Hände auf den Schreibtisch, beugte sich vor und stellte eine Frage, die rings im Kreise ersichtliches Interesse fand. Auch Fels horchte hoch auf:
„Herr Doktor Holzinger, wie war es um die Beziehungen des Herrn Langer mit den zwei ermordeten Frauen bestellt, war diese Ehe harmonisch, gab es Zank und Streit? Die Fragen, die ich stelle, sind höchst delikater und sicher indiskreter Natur, aber ihre wahrheitsgetreue Beantwortung kann von großer Wichtigkeit sein.“
Holzinger zögerte einige Augenblicke, bevor er antwortete:
„Daß die Ehe harmonisch und überaus glücklich war, möchte ich nicht behaupten, obwohl ich niemals Zeuge ernster Streitigkeiten gewesen bin. Herr Langer scheint der schwächere Teil gewesen und vollständig unter der Herrschaft seiner Frau und auch deren Schwester gestanden zu haben. Ich hatte mitunter sogar den Eindruck seiner absoluten Willenlosigkeit. Mehrfach blieb ich, wenn viel Arbeit vorlag, bei Tisch als Gast und da sah ich immer wieder, daß Herr Langer sich am Gespräch der beiden Damen fast gar nicht beteiligte, besser gesagt, sie ihn nicht in ihr Gespräch zogen. Die beiden Damen bildeten gewissermaßen einen Kreis für sich, außerhalb dessen Peripherie Herr Langer stand. Morgens, wenn ich kam, war Herr Langer oft sehr schlecht aufgelegt und manchmal machte er direkt den Eindruck eines vergrämten, verkümmerten Menschen. Gerade an solchen Tagen glaubte ich den Mienen der Frau Langer und der Miß Mac Lean eine gewisse gehobene Stimmung, eine seltsame Art von Fröhlichkeit anzumerken.“
Eine Pause trat ein, es blieb totenstill im Raum, jeder dachte über die Äußerungen des jungen Mannes nach, die Journalisten kritzelten eilig in ihre Notizbücher. Ungeklärte Schicksalsfragen, Verhängnis, düstere Rätsel lagen in der Luft.
Der Kriminalkommissär fuhr dann in seinem Verhör fort, nachdem er im Flüsterton mit seinem Vorgesetzten gesprochen hatte.
„Nun kommen wir zu den aktuellen Ereignissen. Gestern morgens ist Herr Langer nach Prag gefahren. Wissen Sie, aus welchem Anlaß?“
„Herr Langer hatte erhebliche Zolldifferenzen mit dem tschechoslowakischen Staat, bei denen es sich um große Beträge handelte. Da der Prager Rechtsanwalt die Sache nicht energisch genug betrieb, meldete sich vor einigen Tagen Herr Langer beim Handelsminister Doktor Przibram zur Audienz, die ihm bewilligt wurde.“
„Waren Sie gestern, trotzdem Herr Langer nicht hier weilt, in der Villa Mabel?“
„Jawohl, ich war wie gewöhnlich um elf Uhr hier und blieb sogar länger als sonst, da einiges aufzuarbeiten war.“
„Ist Ihnen irgend etwas im Hause oder an dessen Insassen aufgefallen?“
„Nicht das geringste. Die Damen bekam ich überhaupt nicht zu Gesicht.“
Mit erhobener Stimme stellte nun Dr. Bär folgende Frage:
„Herr Doktor, Sie sagten, daß Sie gestern wie gewöhnlich um elf Uhr gekommen seien. Warum eigentlich sind Sie heute erst nahezu um zwölf Uhr hier erschienen?“
„Ich habe länger als sonst geschlafen, fühlte etwas Kopfschmerzen und ging den weiten Weg hierhier zu Fuß, um frischer zu werden.“
„Sie haben heute länger als sonst geschlafen? Wahrscheinlich sind Sie spät zu Bett gegangen?“
Und während eine beklemmende Schwüle auf allen lag, erwiderte Dr. Holzinger ganz ruhig:
„Jawohl, ich bin gestern nachts erst nach zwei Uhr morgens nach Hause gekommen.“
Totenstille, körperlich wahrnehmbare Erregung. Lauter und schärfer als vorher erklang die Stimme des Kriminalbeamten:
„Darf ich Sie um die Gründe dieses langen Ausbleibens in der Mordnacht fragen?“
Bei dem Wort „Mordnacht“ zuckte Holzinger zusammen, es schien ihm plötzlich zum Bewußtsein zu kommen, daß er in diesem Augenblick im Mittelpunkt des Interesses stand, daß seinen Worten eine verhängnisvolle Bedeutung beigelegt wird, und unsicher, zögernd erwiderte er:
„Ich war abends bei den Eltern meiner Braut, wir sprachen über die Zukunft, Elsbeths Mutter war voll Skepsis, wollte von unserer baldigen Verheiratung nichts wissen, und es kam zu unangenehmen, für mich und meine Braut quälenden Auseinandersetzungen, die mich sehr erregten. Ich ging vor der Torsperre, einige Minuten vor zehn Uhr, fort, begab mich in das Ecke Ring- und Babenbergerstraße gelegene ‚Café Kaisergarten‘, las viele Zeitungen, sah dann längere Zeit einer Billardpartie zu und verließ nach Mitternacht, etwa gegen halb ein Uhr, das Lokal. Ich fühlte mich aber zu unruhig und erregt, um zu Bett zu gehen, und raste, um meinen Gedanken Luft zu geben, einmal über die ganze Ringstraße, ging dann vom Kai aus quer durch die innere Stadt, trank im ‚Grabencafé‘ noch einen Likör und kam jedenfalls nach zwei Uhr, es kann auch schon halb drei gewesen sein, nach Hause.“
Wieder trat eine kurze, nach Sekunden zählende Pause ein und Holzinger mochte wohl fühlen, daß er Feindseligkeiten, Widerständen, Unglauben, Mißtrauen gegenüberstand. Und um seine Lippen trat ein bitterer Zug, er richtete sich höher auf und begann seinerseits die Männer um sich her als Feinde zu betrachten.
Bär aber stellte nur noch eine Frage:
„Haben Sie die Schlüssel, die das Haustor und das Gartenportal aufsperren?“
Rasch, ärgerlich und trotzig erwiderte Holzinger:
„Nein, woher hätte ich sie haben sollen?“
Dr. Bär antwortete nicht, er sah sich nach seinen Vorgesetzten um und fragte: „Haben die Herren noch irgend eine Frage zu stellen?“ und als die Herren verneinten: „Herr Doktor Holzinger, wir erwarten Herrn Langer in etwa zwei Stunden hier und werden dann auch Sie vielleicht noch brauchen. Bitte, sich also in nächster Nähe zu unserer Verfügung zu halten und dem Beamten unten zu sagen, wo Sie jeden Augenblick zu finden sind.“
Damit war Holzinger entlassen und als er in der Gersthoferstraße in einem Restaurant