Für die Bibel sind das nicht zwei getrennte Problemkreise, sondern ein einziger, so wahr auch der Mensch nur einer ist und sein Leben nur eines ist. Gott heilt als Arzt nicht allein die Krankheit des Menschen, sondern er will ihn in seiner Ganzheit heil machen. Gottes heilendes Handeln fasst beide Teile, die wir trennen, zur Einheit zusammen. Vor Gottes Angesicht kommt der Mensch in seiner ganzen Lebenstiefe ins Blickfeld. In der wahren, von Gott geschenkten Heilung wird der Mensch zu einem Leben geführt, in dem alle dieses Leben zerstörenden Kräfte überwunden sind. Für die Bibel sind Sündenvergebung und Heilung von Krankheit zu unterscheiden, aber nicht zu trennen.8
2.6. Gott als Arzt
Wenn Gott zu Israel sagt: »Ich bin der Herr, dein Arzt« (Exodus 15,26), so ist dieses Wort auf dem Hintergrund des ersten Gebotes zu hören: »Ich, der Herr, bin dein Gott … Du sollst keine anderen Götter neben mir haben« (Exodus 20,2–3; Deuteronomium 5,6–7). Nicht nur für die Sündenvergebung ist Gott allein zuständig. Nein, auch in der Suche nach Heilung körperlicher oder seelischer Krankheit bekommen wir es unweigerlich mit dem Ausschließlichkeitsanspruch Gottes zu tun.
Deutlich wird das in dem Bericht, den uns die Bibel über König Asa gibt. Er wurde schwer krank, doch »auch in seiner Krankheit wandte er sich nicht an den Herrn, sondern an die Ärzte« (2. Chronik 16,12). Ärzte gehörten damals zum Kult-personal ausländischer Tempel. Asa suchte Heilung bei Ärzten, die ihren Dienst unter An-rufung fremder Götter betrieben. Der Protest gegen den Arzt ergeht hier vom ersten Gebot aus. Die Frage nach der Heilung trieb Asa von Gott weg in den Bereich fremder Götter. Sie waren doch für Heilung zuständig? Diesen Mächten darf sich aber der Mensch nicht unterstellen. Für Heilung von Krankheit ist der Gott Israels, der in Jesus von Nazareth Mensch geworden ist, allein zuständig. Er allein ist der Gott, der »tötet und lebendig macht« (Deuteronomium 32,39; 1. Samuel 2,6).
Als Frage, wofür Gott denn eigentlich zuständig sei, behält der Hinweis auf das erste Gebot für unser Thema seine Bedeutung bis heute.9
2.7. Die Hoffnung Israels auf die messianische Zeit
Die Vorstellungen vom Messias und der Endzeit sind weder im Alten Testament noch im antiken Judentum einheitlich gewesen. Es gibt verschiedene Vorstellungsreihen, die mehr oder weniger parallel, zum Teil auch unausgeglichen nebeneinander bestehen und so auch ihr Recht haben. Ihnen gemeinsam ist die eine Hoffnung, dass in einer kommenden, heilvollen Endzeit Gott selbst die Herrschaft über Israel antreten wird. »Der Herr wird dann König sein über die ganze Erde …«, sagt Sacharja (14,6). Dass Gott König sein wird, bedeutet, dass er als König alle feindlichen, das Leben bedrohenden Mächte überwinden und beseitigen wird. Das betrifft einerseits die Mächte der Bosheit, die in der Sünde, in der Krankheit und Schwachheit des Menschen zutage treten, andererseits aber auch die Mächte, die sichtbar in der Form politischer Unterdrückung und Ausbeutung in unserer Welt auftreten. Gottes Herrschaft, Gottes König-Sein beseitigt alles, was Gott im Wege steht und sich jetzt noch als unüberwunden zeigt.
Dieser Vorstellungshintergrund ist für das Verständnis Jesu außerordentlich wichtig. Der jüdische Mensch zur Zeit Jesu lebte in der Hoffnung, dass Gott sein Königtum bald antreten werde. Worauf gründete sich diese Hoffnung?
Beim Prophet Jesaja kann man lesen: »Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße des Freudenboten (griechisch: des Evangelisten), der Frieden verkündet, gute Botschaft (griechisch: Evangelium) bringt, der Heil verkündet, zu Zion spricht: Dein Gott ist König!« (Jesaja 52,7). In Israel wartete man zur neutestamentlichen Zeit auf diesen Freudenboten. Wenn er auftritt, dann wird es soweit sein.
Seine Botschaft wird lauten: Jetzt tritt Gott endlich seine Königsherrschaft an.
Nun erhebt sich ein nicht unwichtiges Problem. Woran soll Israel erkennen, ob dieser Bote der rechte Bote, ob sein Evangelium das rechte Evangelium sein wird? Diese Frage ist von Jesaja her und mit Hilfe der Regeln damaliger Bibelauslegung durchaus zu beantworten. Für den Umgang mit der Schrift gab es verschiedene Regeln. Eine davon lautete, dass zwei Bibelstellen, in denen derselbe Begriff vorkommt, zur gegenseitigen Erklärung benützt werden sollen. So kann man danach fragen, wo der Ausdruck »Evangelium« sonst noch zu finden ist. So wird man zu Jesaja 61,1ff finden. Auch dort wird von einem Mann gesprochen. Jetzt erfährt man auch, wer damit gemeint ist: der Messias, der Gesalbte Gottes, der Christus. Er wird die frohe Botschaft, das Evangelium bringen. Damit ist die Identität des Mannes, von dem Jesaja 52,7 sprach, geklärt. Doch was tut er sonst noch? Wozu hat ihn denn Gott gesandt? »Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil der Herr mich gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden frohe Botschaft zu bringen [griechisch lautet der Ausdruck hier wieder »Evangelium«], zu heilen, die gebrochenen Herzens sind, den Gefangenen Befreiung zu verkünden und den Gebundenen Lösung der Bande, auszurufen ein Gnadenjahr des Herrn.« Eng damit verbunden ist die andere Stelle bei Jesaja (35,4ff), die ebenfalls als Wort auf die Endzeit verstanden wurde: »Saget zu denen, die verzagten Herzens sind: Seid getrost, fürchtet euch nicht! Siehe da, euer Gott! Alsdann werden die Augen der Blinden aufgeschlossen und die Ohren der Tauben werden aufgetan. Alsdann wird der Lahme springen wie ein Hirsch und die Zunge des Stummen wird jauchzen …« (vgl. auch Jesaja 42,6–7). Diese und weitere Stellen fügen sich zu einem Gesamtbild der Hoffnung auf den Anbruch der heilvollen Endzeit, die Gott einmal heraufführen wird. Alle unheilvollen, Gott und dem Menschen widerstehenden Mächte werden dann gebunden und beseitigt sein; Gott selbst wird seine segensvolle Herrschaft antreten. Auf dieses »Evangelium« wartet man in Israel, darauf, dass der Messias als Freudenbote kommt und sagt: Jetzt ist es soweit. Diese Botschaft ergeht an die Armen, die gebrochenen Herzens sind. Es verkündet eine Befreiung von all den Mächten, die unser Leben in Fesseln hineingezwungen haben. Diese Botschaft wird aber sichtbar – und gerade das soll das Kennzeichen ihrer Echtheit sein – von den Taten der Befreiung begleitet werden: der Heilung von Blinden, von Lahmen, von Tauben, von Stummen (vgl. dazu Matthäus 11,2ff).10
Zusammenfassend kann man sagen: Israel wartete auf den Anbruch der Heilszeit. Gott wird dann seine Herrschaft als König antreten. Das ist mit dem Begriff gemeint, den unsere Bibelübersetzungen mit »Reich«, »Reich Gottes« oder mit »Himmelreich« wiedergeben. Nach dem Zeugnis der Schrift soll dieser Herrschaftsantritt Gottes von einem Freudenboten als frohe Botschaft, als Evangelium verkündet und durch Taten umfassender Befreiung begleitet werden. Vor allem Heilungen hatte man zu erwarten, aber auch die Befreiung von »Fesseln«.11
3. Krankheit und Heilung bei Jesus
3.1. Jesu doppelter Auftrag
Wenn man den Hintergrund der Hoffnung Israels kennt, wird auch verständlich, was in der Synagoge in Nazareth geschah, als Jesus, nach der Darstellung des Lukasevangeliums, zu Beginn seiner Wirksamkeit (4,16ff) die Schriftrolle öffnete und Jesaja 61,1f vorlas. Für die Hörer verband sich mit diesem Text die Erwartung, Jesus werde nun zu ihnen über die kommende, erhoffte Heilszeit und über den Messias als den Boten, der diese Heilszeit ankündigen soll, sprechen. Aber gerade das geschieht nicht. Jesus sagt: Jetzt, jetzt ist es soweit. »Heute ist dieses Schriftwort erfüllt vor euren Ohren« (4,21). Er selbst ist der Freudenbote, der mit dem Geist gesalbte Prophet, der Messias. Die von Israel erhoffte Heilszeit bricht nun herein.
Im weiteren berichtet das Evangelium davon, dass Jesus dem ihm bestimmten doppelten Auftrag auch gerecht wird. »Ich muss das Evangelium vom Reiche Gottes verkündigen; denn dazu bin ich gesandt« (4,43; man beachte, wie genau hier Jesaja 61,1f anklingt).
Diese Predigttätigkeit ist jedoch begleitet von einer umfassenden Heilungstätigkeit. »Als aber die Sonne unterging, brachten alle, die Kranke hatten mit mancherlei Leiden,