Zunächst gilt dieser Auftrag nur den zwölf bzw. den siebzig Jüngern. Wir haben das sehr ernst zu nehmen. Die Texte sagen nichts davon, dass der Auftrag später einmal auf andere Personen erweitert werden soll. Auch findet sich keine Notiz, dass er irgendwie über die unmittelbare Sendung hinaus zeitlich fortdauern soll. Alle erwähnten Texte beinhalten zunächst eine personelle Eingrenzung und eine zeitliche Beschränkung.
So müssen wir danach fragen, ob es im Neuen Testament Spuren davon gibt, dass dieser Auftrag über den zunächst engen Kreis hinaus erweitert wurde. Nur dann haben wir theologisch das Recht, aber auch die Verpflichtung, in diesen Texten nach der Grundlage für den Auftrag unserer heutigen Kirche zu fragen.
4.2. Der Auftrag geht weiter
Eine Reihe wichtiger Texte sowohl aus den Evangelien, der Apostelgeschichte wie in den neutestamentlichen Briefen zeigen uns folgendes: Der zunächst auf den engen Jüngerkreis beschränkte Auftrag wurde als Auftrag des erhöhten Herrn an die ganze Gemeinde verstanden und von ihr auch ausgeführt.56
4.2.1. Der Missionsbefehl nach Matthäus (28,18–20)
Der Text setzt damit ein, dass den elf Jüngern die Rechtsstellung ihres Herrn klar gemacht wird: »Mir ist alle Vollmacht sowohl im Himmel wie über die Erde [von Gott] gegeben« (18; vgl. dazu Offenbarung 12,10). Erst darauf folgt die Aussendung der Jünger: »Gehet hin und machet alle Völker zu Jüngern …« Mission bedeutet, dass die Völker in den Jüngerkreis eingereiht werden sollen. Das bedeutet etwas anderes, als dass die Völker zu »Glaubenden« gemacht werden sollen. Dann wäre zwischen den Jüngern, denen der Auftrag zu verkünden und zu heilen gilt, und den übrigen, die durch ihren Dienst zu Glaubenden werden, eine Scheidewand aufgerichtet. Das aber soll vermieden werden: Der Glaubende soll ein Jünger, ein Schüler Jesu werden. So fährt der Text weiter: »… und lehret sie alles halten, was ich euch befohlen habe.« Was ist es denn, was Jesus seinen Jüngern befohlen hatte? Nach der herkömmlichen Auslegung sind damit die Gebote der Bergpredigt (Matthäus 5–7) gemeint. Das trifft sicher zu. Aber kann dieses Wort Jesu ausschließlich die Bergpredigt meinen? Offensichtlich verweist doch dieser Aussendungstext auf die frühere Aussendung der Jünger in Kapitel 10. »Gehet …, prediget und heilt«, so hatte Jesus zu ihnen gesprochen (10,5ff). Sicher, die anderen Anweisungen Jesu an die Jünger, die sich im Evangelium finden, sind hier nicht ausgeschlossen. Die Bezugnahme auf die erste Aussendung bleibt jedoch auffallend. Die dort gegebene Beschränkung der Sendung – »gehet hin zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel« – wird nun bewusst aufgehoben: »Gehet hin und machet alle Völker zu Jüngern.« Der Missionsbefehl nimmt den Auftrag zu predigen und zu heilen auf und gibt ihn an die Menschen, die durch den Dienst der Jünger zu Glaubenden werden, weiter. Das Besondere ist die Erweiterung des »geographischen« Geltungsbereiches der Sendung.
Exkurs: Zum Zusammenhang von vor- und nachösterlicher Sendung
Dass zwischen den Aussendungsreden Matthäus 10 und 28 ein enger Zusammenhang besteht, ist für das Verständnis grundlegend. Nur wenn er aufzuzeigen ist, dann können Anweisungen, die mit der Sendung von Kapitel 10 gegeben waren, auch für die erneute Sendung von Kapitel 28 Geltung haben. Dieser enge Zusammenhang soll darum hier näher aufgezeigt werden. Betrachtet man die Texte, dann fällt zunächst der verschiedene geographische Horizont der Sendungen ins Auge. Beide setzen betont mit der Angabe dieses Horizontes ein: »Gehet nicht auf eine Straße der Heiden und gehet nicht in eine Stadt der Samaritaner, sondern gehet vielmehr zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel«, lesen wir in Matthäus 10,5f. Auch im Bericht der Heilung der Tochter der kanaanäischen Frau lesen wir von einer klaren Beschränkung der Sendung Jesu, die im Sprachgebrauch eng an Matthäus 10 anschließt: »Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt« (15,24). Parallel dazu setzt 28,19 ein, erweitert aber den Horizont der Sendung: »Gehet also hin und machet zu Jüngern alle Völker.«
Wir stehen vor folgender Situation: Jesus bezeichnet für sich und seine Jünger vor Ostern ausdrücklich nur Israel als Raum seiner Sendung. Nach Ostern aber wird der Raum erweitert; allen Völkern gilt die Sendung der Jünger. Gibt es dafür eine Erklärung? Zunächst müssen wir uns klar machen, wie man diese Frage zu stellen hat. Steht hinter der klaren Abgrenzung der einen Sendung in zwei geographische Geltungsbereiche ein bewusstes Nachdenken Jesu bzw. der Gemeinde, dann muss unsere Frage eine Frage an das Alte Testament sein. Denn dort hat Jesus, dort hat die Gemeinde den Willen Gottes für ihre Sendung vernommen. Unsere Frage muss also lauten, ob es in unserem Alten Testament dafür einen Hinweis gibt, der für die Sendung Jesu und der Gemeinde wichtig war und der gleichzeitig einen Hinweis auf eine geographische »Neuordnung« bzw. »Umordnung« der Sendung geben kann. Mit dieser präzisen Fragestellung finden wir zu Jesaja und zum sogenannten zweiten Lied vom Knecht Gottes. Es scheint so zu sein, dass die Texte vom Knecht Gottes (vor allem Jesaja 42,1–4[5–9]; 49,1–6[7–9]; 50,4–9; 52,13–53,12) für das Verständnis Jesu und des Weges der frühen Christenheit von nicht zu überschätzender Bedeutung gewesen sind. Jesaja 42,1–4 spricht von der Berufung des Knechtes und nennt den Geltungsbereich seiner Sendung: »auf Erden … die fernsten Gestade …«. Jesaja 49,1–6 greift die Frage des »geographischen« Geltungsbereiches auf und führt sie weiter. Der Text betont, dass die Sendung zunächst nur Israel gegolten habe: »… um Jakob zu ihm zurückzubringen und Israel zu ihm zu sammeln … um die Stämme Jakobs aufzurichten und die Geretteten Israels zurückzubringen …« (Jesaja 49,5.6). Diesen Auftrag führt der Knecht offensichtlich aus, aber er scheitert daran: »Umsonst habe ich mich gemüht, um nichts und nutzlos meine Kraft verzehrt …« (Jesaja 49,4). Auf dieses Scheitern der Sendung des Knechtes, die betont nur Israel gilt, antwortet Gott aber damit, dass er den »geographischen« Bereich der Sendung neu ordnet: »Zuwenig ist es, dass du …; so will ich dich denn zum Lichte der Völker machen, dass mein Heil reiche bis an das Ende der Erde« (Jesaja 49,6).
Wir haben in Jesaja 49,1–6 die Sendungsstruktur vor uns, die uns im Verhältnis von Matthäus 10 und 28 ausdrücklich wieder begegnet. Am Anfang steht die Sendung, die nur Israel gilt, nicht aber über Israel hinausgeht. Sie führt jedoch zum Scheitern – und das ausgerechnet an Israel selbst. Angesichts dieses »Scheiterns« aber geschieht das Erstaunliche. Gott selbst erweitert die Sendung: »… so will ich dich denn zum Licht der Völker machen, dass mein Heil reiche bis an das Ende der Erde.«
Die Deutung der Sendung Jesu und der Gemeinde von Jesaja 49,1–6 her findet sich nicht nur bei Matthäus. Paulus spricht davon, das Evangelium gelte »den Juden zuerst und auch den Griechen« (Römer 1,16). Reflektiert wird dieser Umstand von Lukas in der Apostelgeschichte dargestellt (Apostelgeschichte 13). Der Dreiklang: Sendung an Israel, Scheitern an Israel, Sendung zu den Heiden wird ausdrücklich mit einem Zitat aus Jesaja 49,6 begründet (Apostelgeschichte 13,47). Das Wort Gottes an seinen »Knecht« wird dabei nicht auf Jesus gedeutet, sondern als Anweisung für die Mission verstanden, in der auch Paulus und Barnabas stehen. »So hat uns der Herr geboten: ›Ich habe dich zum Licht der Heiden gesetzt, damit du zum Heil gereichest bis an das Ende der Erde.‹« Breit ausgefaltet begegnet uns dieses Verständnis der Sendung des Evangeliums bei Paulus in Römer 9–11.
Für unseren Zusammenhang ist folgende Einsicht wichtig. Es handelt sich hier nicht um zwei Sendungen, die zusammenhanglos aufeinander folgen. Es ist dieselbe Sendung, die in zwei Etappen erfolgt, welche sich vor allem durch die Neuordnung des Geltungsbereiches dieser Sendung voneinander unterscheiden. Das bedeutet für die Exegese von Matthäus 28, dass die inhaltliche Füllung der Sendung aus Matthäus 10 mit zu berücksichtigen ist. Matthäus 28 erwähnt nicht alle Elemente der Sendung, sondern lediglich die, welche ausdrücklich über die erste Sendung hinausgehen.
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