4.2.5. Heilungen in den paulinischen Gemeinden
Die paulinischen Briefe sind fast ausschließlich Gelegenheitsbriefe, entworfen zu verschiedenen konkreten Anlässen, oftmals als Antworten auf Anfragen bzw. zur Regelung aktueller Probleme. Darum können wir aufgrund dieser Dokumente kein vollständiges Bild zeichnen, weder ein Gesamtbild der Theologie des Paulus noch ein Gesamtbild der Glaubens- und Lebenswirklichkeit seiner Gemeinden. Nur das taucht in diesen Briefen auf, was mehr oder weniger zufällig im Verlauf des Gespräches zwischen Paulus und seinen Gemeinden angesprochen wird.
Dennoch lässt sich einiges für unser Thema entnehmen. Heilungen werden im ersten Brief an die Gemeinde in Korinth erwähnt. Der größere Zusammenhang (Kapitel 12–14) macht deutlich, dass die Auseinandersetzung um die konkret auftretenden Geistbegabungen – vor allem innerhalb des Gemeindegottesdienstes – eine korinthische Besonderheit war. Für die Regelung dieser Probleme scheint Paulus jedoch auf eine bereits vorliegende Tradition zurückzugreifen (z. B. 12,28), die ihrerseits auch für andere Gemeinden die umfassende Wirklichkeit charismatischen Lebens voraussetzt. Danach gehört zu den Gaben des Heiligen Geistes, die in der Gemeinde vorhanden sind, auch die »Gnadengabe zu Heilungen« (1. Korinther 12,9.28). Der Heilige Geist hat den umfassenden Dienstauftrag der Gemeinde durch besondere Begabungen unter den Gemeindegliedern verteilt. Wie der Dienst der Heilung konkret ausgeübt wurde, wissen wir nicht. Aber er gehörte zu den klaren Begabungen, um die auch die anderen Gemeindeglieder gewusst haben und deren Dienste sie in Anspruch nehmen konnten.63
4.2.6. Die Gemeindeanweisung bei Jakobus (5,14–16)
»Ist jemand unter euch krank, so lasse er die Ältesten der Gemeinde zu sich rufen, und sie sollen über ihm beten und ihn im Namen des Herrn mit Öl salben! Und das Gebet des Glaubens wird den Kranken retten, und der Herr wird ihn aufstehen lassen, und wenn er Sünden getan hat, so wird ihm vergeben werden. So bekennet nun einander die Sünden und betet füreinander, damit ihr gesund werdet! Viel vermag die Bitte eines Gerechten in ihrer Wirkung.«
Unabhängig von allen Detailfragen, die sich im Zusammenhang mit diesem Abschnitt des Jakobusbriefes stellen, lassen sich eine Reihe wichtiger und grundlegender Einsichten herausstellen. Zunächst wird bestritten, dass Krankheit ein Privatproblem des Kranken ist. Sie wird als Aufgabe der Gemeinde angesehen und tritt gewissermaßen in die Öffentlichkeit der Gemeinde. So wird der Umgang mit ihr im Aufgabenbereich der Ältesten geregelt. Im Leben der Gemeinde, wie sie Jakobus vor Augen steht, ist die Krankheit eines Gemeindegliedes so wichtig, dass der Umgang mit ihr in der Ordnung, unter die sich diese Gemeinde stellen soll, besprochen wird. »Vor der Erkrankung zieht sich die Christenheit nicht wehrlos zurück … Da sie auf den kommenden Bringer des Lebens wartet, schätzt sie das Leben als Gottes großes Geschenk und kämpft für seine Erhaltung« (Adolf Schlatter).64 An keiner anderen Stelle des Neuen Testamentes erhalten wir so konkreten Einblick, wie der Anweisung Jesu, dass die Gemeinde zu heilen hat, in ihrer eigenen Mitte entsprochen worden ist. Sie zeigt gleichzeitig, dass man diese Anweisung Jesu gekannt und befolgt hat.
Beachtenswert ist, wie stark in dieser Ordnung die Gewissheit durchscheint, dass man damit nach dem Willen des Herrn der Gemeinde handelt. Kein Wort fällt darüber, ob man nicht vorher nach der Absicht Gottes mit dieser Krankheit zu fragen habe. Dass Heilung der Wille Gottes sei, steht der Gemeinde unverbrüchlich fest. Kein Wort fällt auch darüber, was man tun solle, wenn Gott nicht heilt. Diese Frage hat hier – vor Gebet und Salbung! – offensichtlich keinen Raum. Es werden zwar Hinweise dafür gegeben, welche Voraussetzungen für das Gebet um Heilung nötig sind. Vor allem wird die Beichte erwähnt. Entgegen einer starken Auslegungs-Tradition ist hier an die gegenseitige Beichte derer gedacht, die mit dem Kranken beten, nicht an die Beichte des Kranken selbst. Die Ältesten der Gemeinden haben die Schuld, die ihrem Gebet im Wege stehen kann, im Bekenntnis vor Gott und voreinander abzulegen. Sicher ist dem Kranken solche Beichte nicht verwehrt; aber an ihn ist hier zunächst nicht gedacht. Das Wissen um »Gebetshindernisse« verdunkelt aber der Gemeinde nicht den ausdrücklichen Willen Gottes zur Heilung und seinen klaren Auftrag, unter den sie sich gestellt weiß.
4.2.7. Die johanneische Tradition
Es hängt mit der Eigenart des johanneischen Schrifttums zusammen, dass hier nicht konkret von Heilungen durch die Gemeinde gesprochen wird. Schon das Johannesevangelium steht unter einem ganz bestimmten theologischen Interesse und bietet daher ausdrücklich nur eine Auswahl aus dem, was von Jesus zu berichten war (20,30f; vgl. 21,25). Auch die Briefe und die Offenbarung stehen unter konkreten Fragestellungen.
Dennoch lässt sich zeigen, dass auch die johanneische Tradition um den bei den Synoptikern klar ausgesprochenen Auftrag zur Heilung weiß. Der Empfang des Heiligen Geistes wird bei Johannes mit der Sendung der Jünger verbunden. Diese Sendung gliedert die Jünger in die Sendung Jesu ein. »Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich auch euch« (20,21f). Mit dieser Teilnahme an Jesu Sendung ist die Beauftragung zur Heilung implizit mitgegeben.
Über das Verhältnis von Jesu Wirksamkeit zu der seiner Jünger spricht auch der Vers Johannes 14,12: »Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wer an mich glaubt, wird die Werke, die ich tue, auch tun, und er wird größere als diese tun … « Die Glaubenden werden die Werke des irdischen Jesus in seiner Sendung vom Vater her fortsetzen. Zu diesen Werken gehören aber nach Johannes in hervorgehobenem Maß gerade die Heilungen.65
4.2.8. Die Notiz des Hebräerbriefes (2,4)
»… wobei Gott zugleich Zeugnis gab durch Zeichen und Wunder und vielerlei machtvolle Taten und Zuteilungen des heiligen Geistes nach seinem Willen.
Die Bemerkung des Hebräerbriefes ist uns wichtig, weil sie zeigt, wie auch eine von der synoptischen wie von der paulinischen Tradition verschiedene Überlieferung von der urchristlichen Wunderkraft Zeugnis gibt. Im Zusammenhang geht es um den Erweis der Glaubwürdigkeit und Geschlossenheit urchristlicher Verkündigung und Überlieferung bis zur Gegenwart des Hebräerbriefes. Die Zuverlässigkeit wird, so sagt der Text, dadurch verbürgt, dass Gott selbst eingreift und die Tradition »bezeugt«. »Er greift ein durch Zeichen und Wunder, vielfache Kraftwirkungen und Zuteilungen des Heiligen Geistes nach seinem Willen« (Otto Michel).66 Die Nähe zu Paulus (1. Korinther 12) und vor allem zu Markus (16,20) ist äußerst auffallend. Auch hier hat es nicht den Anschein, als ob der Verfasser von einer Wirklichkeit spricht, die ihm und den Briefempfängern neu oder unbekannt ist. Auch wenn die »Zeichen« und »Wunder« und die »machtvollen Taten« inhaltlich nicht näher ausgeführt werden, so ist vom gesamten neutestamentlichen Zeugnis in erster Linie an Heilungen zu denken.
4.3. Zusammenfassung
Das Neue Testament gibt uns Zeugnis davon, dass Jesus seinen Auftrag darin gesehen hat, »die Werke des Teufels zu zerstören« (1. Johannes 3,8) Darum enthält seine Wirksamkeit beide Elemente: Im Wort wird die Herrschaft Gottes den Menschen angesagt. In der Tat kündigt sich dieselbe Herrschaft zeichenhaft an. Beide, das Wort und die Tat, werden zum Auftrag Jesu an seine Jünger und gehen über in den Auftrag der Gemeinde. Jesus hat in seiner irdischen Wirksamkeit »angefangen zu tun und zu lehren« (Apostelgeschichte 1,1). Als der erhöhte Herr will er diese seine Tätigkeit in der Gemeinde, seinem Leib, fortsetzen. »Der Herr wirkte mit und bestätigte …« (Markus 16,20; vgl. Apostelgeschichte 4,29f).
Es gibt im Neuen Testament keinen Hinweis darauf, dass ein Element dieses Auftrages einmal überflüssig werden sollte. Gegeben ist der Auftrag, gegeben ist mit ihm auch die Verheißung Jesu.
Teil II: Krankheit und Heilung in der Geschichte
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