Sie verließ das Zimmer und zwang sich, die Tür leise zu schließen, weil sie nicht kindisch wirken wollte.
Als sie später, nachdem sie sich länger als üblich bei den Kindern aufgehalten hatte, zurückkam, fand sie das Wohnzimmer verlassen. Sie war erleichtert. Weit öffnete sie das Fenster.
Die nächsten Wochen wurden qualvoll. Es war fast unerträglich für Martina, auf so engem Raum mit dem Mann zusammenzuleben, von dem sie mit all ihren Kräften fortstrebte. Daß er zornig und verletzt war, verstand sie und nahm sie hin. Besonders schlimm war es mit ihm an dem Tag, da die Post ihm ihre Scheidungsklage brachte. Bis zu diesem Moment hatte er immer noch gehofft, daß sie schwach werden würde. Jetzt mußte er den Tatsachen ins Gesicht sehen, und das wurde zu einer harten Prüfung, nicht nur für ihn, sondern auch für seine Familie.
Martina, an der er seine Wut, seine Enttäuschung und seine verletzte Eitelkeit ausließ, hatte am meisten zu leiden. Sie ertrug es mit Haltung, angespannt bemüht, ihn sowenig wie möglich zu reizen. Viel schlimmer war es für sie, daß er immer wieder Ansätze machte, den Haß, den er jetzt tatsächlich für sie empfand, zu unterdrücken, und seinen ganzen männlichen Charme aufbot, um sie zu verführen. Ließ sie ihn dann ihre Gleichgültigkeit spüren, kamen seine echten Gefühle zum Durchbruch, und er beschimpfte sie.
Einmal – er war nachmittags bei seinem Anwalt gewesen – überfiel er sie nachts auf dem Flur, als sie vom Bad kam. Seine Arme umklammerten sie wie Schraubstöcke, gewaltsam versuchte er sie ins Schlafzimmer zu schleppen.
Obwohl sie sehr erschrak, gelang es ihr, sich zu beherrschen.
»Ich schreie!« drohte sie.
Seine große Hand preßte sich ihr auf Mund und Nase, so daß sie zu ersticken glaubte. Es gelang ihr, einen seiner Finger zwischen die Zähne zu bekommen, und sie biß in sein Fleisch, so fest sie konnte.
Aufstöhnend zog er die Hand zurück und gab Martina frei.
Ihr Instinkt riet ihr zu fliehen, doch ihr Verstand zwang sie zu bleiben und es durchzustehen. Sie schlang den Gürtel ihres Morgenrocks fester und stand aufrecht vor ihm. »Das ist die falsche Methode«, sagte sie.
»Martina . . . au verdammt!« Er steckte sich den verletzten Finger in den Mund.
»Mit einer Vergewaltigung setzt du dich nur noch stärker ins Unrecht.«
»Du bist meine Frau!«
Der Flur war nur erleuchtet durch das schwache Licht, das aus dem Schlafzimmer fiel. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, nur seine Gestalt, die sich breitschultrig von dem hellen Rechteck abhob.
»Das gibt dir kein Recht, mich zu überfallen.«
»Martina, verstehst du denn nicht . . . du bist meine Frau! Ich liebe dich doch!« Er trat näher.
Sie wich nicht zurück. »Mach mir nichts vor! Ich weiß Bescheid. Wenn ich mich von dir rumkriegen lasse, ist mein Scheidungsgrund hinfällig. Das ist es doch, worauf du hinauswillst.«
»Du bist zynisch, Martina.«
»Nur ehrlich, Helmut. Und ich wollte, du wärst es auch. Du machst dir nicht mehr das geringste aus mir, ja, du haßt mich. Also zwing dich nicht, mir nachzulaufen. Sei lieber froh, daß wir auseinandergehen, bevor wir uns gegenseitig totschlagen.«
»Martina, ich . . . « Er kam noch näher.
Sie rührte sich nicht von der Stelle. »Bleib mir vom Leib. Du weißt jetzt, was ich von deinen Anstrengungen denke.«
»Niemals hätte ich geglaubt, daß es so weit mit uns kommen würde!«
»Ich auch nicht«, gab sie zu. »Aber es hat keinen Zweck, an meine Gefühle zu appellieren. Ich würde nicht mal mit dir ins Bett gehen, wenn ich es gerne wollte. Der Preis wäre mir zu hoch. Leg dich schlafen!«
Im Halbdunkel standen sie sich gegenüber, sie unbeweglich und wachsam, er lauernd auf dem Sprung. Erst als er begriff, daß sie sich keine Blöße geben würde, drehte er sich mit einem Knurrlaut um und zog sich zurück. Sie verschloß die Wohnzimmertür hinter sich und klemmte, zur Sicherung, noch eine Sessellehne unter die Klinke. Jetzt, da alles vorbei war, zitterte sie am ganzen Leib. Sie fror und mußte die Zähne aufeinanderbeißen, damit sie nicht klapperten.
Es dauerte lang, bis sich der Schock, den sie erlitten hatte, in einem nervösen Weinen löste.
Nach dieser Nacht versuchte Helmut Stadelmann nie mehr, sich seine Frau gefügig zu machen. Er gab sich grollend, ein vom Schicksal geschlagener Mann, und die Kinder zitterten vor seiner schlechten Laune. Dann, von einem Tag zum anderen, änderte er seine Taktik. Er zeigte sich heiter und versöhnlich, scherzte mit Claudia, unterhielt sich ernsthaft und aufmerksam mit Stefan und versuchte auch Martina ins Gespräch zu ziehen. Aber sie blieb zurückhaltend, denn sie traute ihm nicht.
Nach dem Abendessen schlug er vor, wieder einmal »Monopoly« zu spielen. Die Kinder stimmten begeistert zu.
»Mach doch mit, Mutti!« bat Stefan.
»Zu vieren macht es viel mehr Spaß!« erklärte Claudia, die die Schachtel rasch herbeiholte und sie auf den erst halb abgedeckten Tisch stellte.
Martina sah sich in die Rolle der Spielverderberin gedrängt. »Ich würde ja gerne«, log sie mit einem erzwungenen Lächeln, »aber ich habe noch in der Küche zu tun.«
»Ach, Quatsch, Mutti!« rief Stefan.
»Gib dir schon einen Ruck, Alte!« Helmuts Freundlichkeit war so falsch wie ihr Lächeln. »Was macht’s schon aus, wenn wir morgen abend mal kalt essen?!«
»Lieber nicht. Das können wir uns nicht leisten!« Rasch stapelte Martina die benutzten Teller auf das Tablett und verschwand damit in der Küche. Sie hätte darauf bestehen können, daß Claudia und Stefan, wie gewöhnlich, den Abwasch besorgten. Aber damit hätte sie die Kinder nur noch gegen sich aufgebracht und Helmuts Position noch gestärkt.
Die winzige Küche war kein Ort, an dem man sich gerne aufhielt, aber sie hatte sich nun einmal selbst hierher verbannt. So bereitete sie einen Auflauf für den morgigen Abend vor und studierte, während die Nudeln kochten, in ihrem Chemiebuch. Sie mußte jede Minute zum Lernen nutzen.
Auf dem harten Hocker saß es sich denkbar unbequem. Die fröhlichen Stimmen der anderen drangen, untermalt von Schlagermusik von Radio Luxemburg, zu ihr herüber. Sie konnte sich nicht konzentrieren und fühlte sich ausgeschlossen, obwohl sie den Sinn dieser kleinen Demonstration nur zu gut verstand.
Helmut wollte ihr zeigen, wie reizvoll das Familienleben sein konnte. Aber sie erinnerte sich, daß solche Stunden in den Jahren ihrer Ehe sehr selten gewesen waren. Zuerst hatte Helmut abends für seine Prüfungen und Kurse gebüffelt, und später hatte seine Briefmarkensammlung ihn beschlagnahmt. Für eine Unterhaltung oder gar für ein Spiel war kaum je Zeit gewesen, und genauso würde es wieder werden, wenn sie sich jetzt einwickeln ließ.
Die Nudeln waren gar, sie schreckte sie ab. Dann nahm sie Bier und Limonade aus dem Eisschrank, stellte Gläser dazu und trug das Tablett ins Wohnzimmer.
»Bei dieser Schreierei werdet ihr euch sicher gern mal zwischendurch die Kehlen befeuchten«, sagte sie.
Die Kinder freuten sich, und Helmut sagte: »Du bist ein Schatz!« Sie klemmte sich das leere Tablett unter den Arm und ging.
Danach wurde es stiller im Wohnzimmer, und eine halbe Stunde später machte Helmut Schluß.
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