„Mal sehen, wieviel Zeit die uns lassen“, bemerkte der Obersturmführer sarkastisch.
„Sie wollen sich doch hier nicht auf die Straßenkreuzung stellen?“ fragte Roettger, dem die Angst den Rücken heraufkroch. Er konnte die Übelkeit nicht mehr länger unterdrücken. Er lehnte sich mit der rechten Hand gegen den Baumstamm und übergab sich. Der Obersturmführer lächelte.
„Fertig? – Was dachten Sie denn, wir sind doch hier nicht zum Indianerspielen.“
Sie stellten sich auf die Straßenkreuzung wie echte MP-Posten. Wieder rollten die Fahrzeuge im breiten Strom heran. Gerade konnte der Obersturmführer noch die Wegweisertafeln abmontieren.
Kolonne auf Kolonne stoppte an der Straßenkreuzung. Die Amerikaner brüllten und fluchten. Friedberg schickte sie in alle Richtungen, immer entgegengesetzt der HKL. Mit Nachschubeinheiten konnte man alles machen, die kannten sich nie im Gelände aus. Die meisten wies Friedberg in Richtung Namur.
Jetzt traten die ersten Stockungen ein. Fahrzeuge verstopften die Straße. Kolonnen kamen sich entgegen, prallten aufeinander, das Chaos wuchs von Minute zu Minute.
Roettger folgte mechanisch den Handbewegungen seines Obersturmführers. Er wußte, daß es nicht mehr lange dauern konnte, bis die Amis die Quelle des Durcheinanders entdeckten. Und immer noch quäkte das Funkgerät des Jeeps …
Roettger wollte abhauen, aber er wagte es nicht. Der Mann neben ihm war wie besessen. Sein Gesicht glänzte. Er schien keine Nerven und kein Gefühl zu haben. Er schien an der Sache noch Spaß zu finden, am Abschlachten, am Irreführen, an der eigenen Angst, am Durcheinander. Der ist doch verrückt, dachte sich Roettger und stand immer noch angewurzelt.
In diesem Augenblick geschah es.
Friedberg war auf das Trittbrett eines riesigen Trucks getreten und hatte dem Fahrer etwas zugebrüllt.
„He, Joe!“ schrie der Ami mit krebsrotem Gesicht, „bist du verrückt geworden?“
Dann sah er, daß es nicht Joe war, erkannte die Zusammenhänge blitzschnell. Vielleicht war er schon mit Argwohn an die Kreuzung gekommen. Jedenfalls, bevor Friedberg noch zuschlagen konnte, hatte er die Pistole in der Hand, zielte oberflächlich, drückte ab.
Friedberg spürte die Explosion im Gesicht. Er taumelte, wollte die eigene Waffe herausreißen, da blitzte es wieder. Die Schüsse hörte er nicht mehr, er fühlte nur, wie ihm die Gedärme zerrissen wurden. Etwas blies ihm die Backen auf. Er konnte das Blut nicht mehr ausspucken. Bevor es Nacht um ihn wurde, für immer, sah er Roettger in weiten Sprüngen über das Feld flitzen. Er kam nicht weit. Er blieb in einer konzentrischen Garbe liegen. Dann sah Obersturmführer Friedberg noch lauter Militärpolizisten um sich herum, und ihre blauen Armbinden wurden immer bunter, immer größer.
Die Ablösung, dachte er noch, die Ablösung …
Mit Haubold und dem kleinen, strohblonden Seyfried spielte das Schicksal nicht so dramatisch. Seyfried war viel zu ängstlich, um sich zu verkrümeln. Er hätte mit klappernden Zähnen alles mitgemacht. Aber als er zu Boden gekommen war, blieb er allein. Er versuchte aus der Erinnerung an die monatelange Schulung etwas herauszukramen, was jetzt von Nutzen sein könnte. Aber es fiel ihm nichts ein. Alle seine Gedanken mündeten in der Angst.
„Es ist alles Scheiße!“ sagte er halblaut und erschrak vor seiner eigenen Stimme.
Dann fing er an zu rennen. Immer nach Osten. Aber er kam an Straßen, auf denen Amis fuhren und brüllten. Da rannte er wie ein scheuender Gaul wieder zurück. Er erschrak vor Fußspuren, die er im Schnee fand … bis er entdeckte, daß es seine eigenen waren. Er hatte sich im Kreis bewegt.
Seyfried heulte. Er ballte die Fäuste. Er stolperte, fiel und brach sich das Handgelenk. Mit der unverletzten Hand fühlte er einen Draht. Es war das Kabel eines Feldtelefons. Es muß irgendwohin führen, dachte er. Von jetzt ab war ihm alles egal …
Er nahm das Kabel hoch und lief an ihm entlang. Alle hundert Meter brüllte er auf amerikanisch:
„Hello!“
Erst nach einer Viertelstunde bekam er die Antwort. Aus dem Unterholz traten ihm vier Amerikaner mit vorgehaltenen Maschinenpistolen entgegen. Er sah Geschütze unter Tarnnetzen. Seyfried war mitten in eine amerikanische Artilleriestellung geraten.
„Where are you from?“ fragten ihn die Amis … „Wo kommst du her?“
Eine Sekunde überlegte Seyfried, ob er sich doch noch auf das verzweifelte Spiel einlassen sollte. Aber er hatte nicht mehr die Nerven.
Er gestand alles.
Sie brachten ihn zu ihrem Bataillonskommandeur. Der Major reichte ihn an die Division weiter. Von baumlangen Polizisten geführt, wurde Seyfried von Stellung zu Stellung nach hinten gebracht. Seine Geschichte verbreitete sich blitzschnell. Er lief durch die spalierstehenden Amis wie ein Tanzbär am Kirchweihfest durch die aufgeregte Dorfjugend.
Noch einmal hörte man sich die Geschichte des SS-Sturmmannes Seyfried an, ohne eine Miene zu verziehen.
„Ich hatte es satt … es ist doch alles sinnlos“, erklärte Seyfried immer wieder.
„Und wie viele von unseren Leuten haben Sie umgebracht, bevor Sie einsahen, daß alles sinnlos ist?“ fragte der verhörende Captain.
„Keinen Menschen“, beteuerte der blonde Seyfried.
„Es ist ohnedies egal“, erwiderte der Captain. „Sie stehen nicht unter der Haager Konvention. Das mußten Sie ja wissen, als Sie unsere Uniform anzogen.“
In einem kalten Keller irgendwo in Belgien erfuhr Seyfried am Heiligen Abend von einem mitleidigen Posten, daß die Ardennenoffensive längst zusammengebrochen war.
Es ist alles so sinnlos, dachte Seyfried noch einmal. Am zweiten Weihnachtsfeiertag wurde er erschossen. Die amerikanische Division verlegte ihre Stellung sowieso nach vorne, und es bestand kein Grund, ihn noch weiter mit herumzuschleppen.
Haubold hatte es am besten von allen Fallschirmspringern, die zusammen mit Werner Eckstadt abgesetzt worden waren. Er hatte in der Nacht zum 17. Dezember einen wunderbaren Landeplatz gefunden. Ein freies Feld. Aber der Wind war zu stark, und Haubold glitt beim Aufprall aus. Er kam nicht mehr dazu, seinen Fallschirm zu überlaufen. Die aufgeblasene Seide zog ihn in einem Höllentempo quer über das ganze Feld. Haubold hatte den Kopf nach unten, die Beine in der Höhe. Sein Schädel schlug gegen Steine und Wurzeln.
Ein Koppelzaun trennte ihm den Kopf wie mit dem Rasiermesser vom Rumpf.
Belgische Bauern fanden ihn und beerdigten ihn mit allen Ehren als einen der Befreier, auf die sie seit Jahren gewartet hatten. Ais sie später der amerikanischen Armee das Grab nannten, konnten sie den Fall nicht mehr genau rekonstruieren.
Und so wurde Haubold in die Liste der unbekannten amerikanischen Soldaten aufgenommen. Und amerikanische Mütter weinen um ihn an den Ehrenmälern, die es dafür gibt …
Werner Eckstadt hockte in dem Panzer auf dem Platz, den ihm Obersturmführer Klausen zugewiesen hatte. Sein Sitz war miserabel. Die heißen Kartuschen mußten ihm unweigerlich ins Kreuz fliegen, falls der Panzer schoß. Außerdem mußte er sich klein machen. Vom ständigen Bücken verkrampfte sich sein Rücken.
Zum Glück fuhren sie nicht über Felder, sondern auf einer Straße. Das merkte Werner an der Erschütterung. Kein Mann der Panzerbesatzung wußte, daß es genau die gleiche Straße war, auf der Obersturmführer Friedberg und Unterscharführer Roettger in der Uniform des Feindes vor Stunden entlanggetippelt waren.
„Wenn’s jetzt nicht bald was gibt, Obersturmführer“, sagte der Fahrer Saalbeck, „dann sehen wir sauber aus.“ Er meinte Sprit für den Panzer, denn die Nadel des Brennstoffanzeigers zitterte knapp bei der Hundertlitermarke.
„Wird schon“, erwiderte der Obersturmführer.
Eine. Sekunde später befahl er:
„Turm auf elf Uhr!“