Die Rabenringe - Gabe (Band 3). Siri Pettersen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Siri Pettersen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783038801153
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vielleicht nie mehr wiedersehen würde. Ob sie überhaupt noch mal jemanden sah?

      Bisher deutete alles darauf hin, dass sie in dieser frostigen Ödnis einschneien würde. Irgendwann würden die Blinden es leid sein, auf sie zu warten, und sie einfach liegen lassen. Und in hundert Jahren würden Totgeborene ein Gerippe ausgraben. Etwas, das einer Verwandten von Graals totem Raben glich. Knochen und Hautfetzen in einem Pullover mit englischem Text, den keiner auch nur im Entferntesten begreifen würde.

      Hirka zwang sich zu einem Lächeln, um sich aufzumuntern. Sie war umgeben von Totgeborenen, in der Art von Wetter, in dem Leute verschwanden, und sie hatte keine Ahnung, wohin sie unterwegs war. Humor war das wichtigste Werkzeug, das sie zum Überleben besaß.

      Sie stapften eine steile Anhöhe hinauf, die mit dem Himmel verschmolz. Eine blau-weiße Einöde, die sie blendete, wenn sie zu lange darauf starrte. Bisher hatte sie keinen einzigen Baum gesehen, auch keine Anzeichen von Leuten. Nur Eis und Schnee.

      Hirka spannte die Kiefermuskeln an, um zu verhindern, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen. Ihre Wangen waren so kalt, dass es sich anfühlte, als platzten sie auf, und der Schweiß war zu Eisperlen im Haar erstarrt. Sie musste bei jedem Schritt mühsam die Füße aus dem Schnee ziehen. Der Stock war eine gute Hilfe. Ein hohler Stab, der wenig wog, aber viel aushielt. Alle hatten einen. Sie hatten gesagt, man könnte durch ihn atmen, falls man von einer Lawine verschüttet wurde, und dass er es leichter machte, gefunden zu werden. Es deutete auch nichts darauf hin, dass sie es scherzhaft gemeint hatten.

      Hirka wusste, dass sie bald anhalten musste. Sie schmeckte vor Erschöpfung schon Blut auf der Zunge.

      Sie blinzelte zu Skerri. Die Frau ging in unermüdlichem Rhythmus vor ihr und hinterließ eine Spur, die es allen leichter machte, die nach ihr kamen. Nicht ein einziges Mal hatte Hirka gesehen, dass sie den Umhang enger um den Körper zog. Es war unbegreiflich, dass sie nicht erfror.

      Auf dem Rücken trug sie einen röhrenförmigen Behälter aus Leder. Er erinnerte an einen Köcher, war aber zu groß für Pfeile. Etwas sagte Hirka, dass sie nicht darauf zu hoffen brauchte, er könnte eine Decke enthalten.

      Jedes Mal, wenn Skerri sich umdrehte, um nachzusehen, wo Hirka blieb, schlugen die Perlen in den schwarzen Zöpfen gegen den Köcher. Es klang wie Hagel. Das Geräusch hatte inzwischen seine eigene Bedeutung erhalten. Eine Anklage, die Hirka vorwärtstrieb.

      »Wer ist eigentlich Modrasme?«, rief Hirka in der Hoffnung, dass ein Gespräch sie dazu bringen würde, langsamer zu gehen.

      »Die Älteste in unserem Haus«, antwortete Skerri. Sie warf Hirka einen Seitenblick zu. »In deinem Haus«, ergänzte sie. Es klang eher wie eine Drohung als wie ein Trost.

      »Also erhalten die Häuser ihre Namen nach den Ält…«

      »Wir reden, wenn wir da sind.«

      Hirka biss sich auf die Lippe. Vielleicht war einer der anderen zugänglicher? Sie blickte zurück. Die drei Männer, die ihr folgten, gingen hintereinander. Hungl hieß der ganz am Ende. Ein soldatischer Typ mit dunklem Haar und einem kleinen Ziegenbart. Vor ihm ging Grid, ebenso leicht bekleidet wie Skerri und der Einzige, mit dem diese ein paar Worte gewechselt hatte. Anscheinend kannten sie sich gut. Wäre er nicht ebenso blond gewesen, wie Skerri dunkel war, hätte Hirka sie für Geschwister gehalten. Obwohl – die Umpiri bekamen selten mehr als ein Kind. Ein Umstand, der Graal und Naiell wohl die Position verschafft hatte, die sie vor dem Krieg innegehabt hatten.

      Der Erste hinter Hirka war der Mann mit dem stahlgrauen Haar und dem Schaffell um die Schultern. Keskolail, der geschossen hatte. Hirka zögerte einen Moment, aber ihre Erschöpfung war größer als ihre Angst, also blieb sie stehen, um auf ihn zu warten. Skerri ergriff sie am Arm und zog sie weiter.

      »Sprich nicht mit den Gefallenen«, sagte sie.

      »Wer sind …«

      »Wir besprechen seine Strafe, wenn wir im Lager angekommen sind.«

       Lager …

      Schon das Wort wärmte wie ein Feuer. Hirka schöpfte neue Kraft und krümmte den Nacken gegen den Schnee.

      Aber warum sollte er bestraft werden? Hirka warf einen verstohlenen Blick zu dem Mörder hinter ihr. Zu dem Tropfen auf seiner Stirn. Kein anderer hatte so etwas. Er hatte sie immer noch nicht angesehen. Es war, als existierte sie nicht für ihn. Und augenscheinlich sollte er auch nicht für sie existieren.

      Der Hang wurde so steil, dass Hirka ihre Hände zu Hilfe nehmen musste, um voranzukommen. Sie verzichtete darauf, ihre Finger zu betrachten, so blau gefroren, wie sie sicher waren. Wenigstens schneite es hier oben nicht mehr so stark.

      »Habt ihr keine Wege?«, fragte Hirka.

      Skerri sah sie über die Schulter an. »Wege? Du meinst, du bist bereit, gesehen zu werden?«

      Das klang nicht so, als erwartete sie eine Antwort, also sagte Hirka nichts mehr.

      Das Gelände wurde flacher und sie kamen auf eine verschneite Ebene, gesäumt von windschiefen Birken. Die ersten Bäume, die Hirka zu Gesicht bekam. Ein Rabe schrie. Sie konnte ihn nicht sehen, aber sie spürte vor Erleichterung einen Kloß im Hals. Hier gab es Leben. Anderes Leben als nur Blinde.

      Eine Gruppe von spitzen Zelten ragte am anderen Ende der Ebene auf. In Windrichtung waren sie dick eingeschneit, aber die Zelttücher blähten sich trotzdem. Hirka sah sich um und entdeckte mindestens drei Plätze, die mehr Schutz vor dem Wind geboten hätten. Wie es schien, hatte niemand einen Gedanken darauf verschwendet.

      Ihre Hoffnung auf einen Wagen und eine warme Mahlzeit war dahin. Beides würde sie hier kaum vorfinden. Sie bemerkte, dass sie schon wieder zurückgefallen war, und beeilte sich, zu Skerri aufzuschließen.

      »Das ist das Lager?«, fragte sie. »Hier schlaft ihr? Auf der Ebene?«

      »Ja.«

      »Aber … Was, wenn Raubtiere kommen?«

      Skerri sah sie an. Eine steile Falte auf der Stirn zog sich hinab bis zur Nase. »Was meinst du?«

      »Wir sollten vielleicht … Was, wenn wir angegriffen werden?«

      Skerri bleckte die Zähne. Hirka wich einen Schritt zurück und wäre beinahe gestolpert. Die Umpiri brauchten keine Raubtiere zu fürchten. Sie waren Raubtiere.

      »Meinst du, dass wir einen Angriff nicht überleben würden?«

      Hirka schüttelte den Kopf. »Nein. Nein, überhaupt nicht. Ich dachte mehr … an mich. Im Grunde …« Ihre Worte wurden immer leiser und versiegten. Sie schrumpfte unter Skerris Blick zusammen. Fühlte sich wie ein Haar in der Suppe.

      Warme Suppe …

      Skerri ging weiter. Hirka folgte ihr, während sie in Gedanken eine Liste über Dinge anlegte, die sie, wie sie gemerkt hatte, besser nicht ansprechen sollte. Pferde nicht. Wagen vermutlich auch nicht. Nichts, was andeutete, dass die Umpiri nicht selbst gehen konnten. Oder dass sie erschöpft waren. Und unter gar keinen Umständen etwas, das andeutete, sie müssten sich vor irgendetwas fürchten.

      Zwei Totgeborene kamen ihnen entgegen. Beides Frauen. Sie waren ganz verschieden. Eine war dunkelhaarig und trug eine knöchellange Tunika. Wie ein Prediger oder ein Schriftgelehrter. Die andere war blond, gekleidet in Leder und Felle wie ein Jäger. Oder ein Krieger, dem grimmigen Gesichtsausdruck nach zu urteilen. Sie unterhielten sich mit Skerri in einer Sprache, die Hirka nicht verstand. Blindensprache.

       Die Sprache der Umpiri.

      Sie klang fremd und doch vertraut. Die Worte lösten etwas in ihr aus. Wie ein Duft, den man seit Kindertagen nicht mehr gerochen hat. Neu, aber trotzdem ein Teil von ihr.

      Die beiden Frauen blickten Hirka an. Sie knickten ganz leicht mit einem Knie ein, als eine Art Gruß. Hirka hatte das Gefühl, dass sie dasselbe tun sollte. Sie beugte das Knie und spürte im selben Moment eine Hand im Nacken. Skerri hatte sie gepackt und trieb sie vor sich her zu einem Zelt. Sie