Ich setze mich ein wenig abseits des Geschehens auf einen größeren Felsbrocken. Langsam fange ich an zu frieren. Wenn ich doch fotografieren dürfte. Das würde mich ablenken. Aber »No fotos!« hat es geheißen. An das mit strenger Stimme immer wieder vorgebrachte Verbot halte ich mich natürlich. Mir ist kalt. Und ich muss zugeben: Angst habe ich auch. Gesetzt den Fall, die Herren Grabräuber würden mir mit einem ihrer Werkzeuge den Schädel einschlagen und meinen Leichnam irgendwo verscharren? Wer weiß, ob man meine Gebeine je finden würde?
Sammler kaufen Grabbeigaben aller Art
Pedro gesellt sich zu mir. In erstaunlich gutem Deutsch erzählt er mir, dass er als Hausdiener bei einer reichen Familie in Santiago arbeitet. »Bei den Herrschaften habe ich die Sprache der Germans erlernt!« Er setzt sich neben mich, bietet mir einen Schluck Pisco aus einem metallenen Flachmann an. Das hochprozentige Getränk wärmt und vertreibt die Angst. Es scheint sich aber auch schmerzhaft durch die Magenwände fressen zu wollen. Ich atme die kalte Luft hastig ein. Der brennende Schmerz lässt nach. Die Kälte kehrt zurück.
Etwa gegen zwei Uhr morgens macht sich Aufregung bei den Grabräubern bemerkbar. Nervös, mit fahrigen Händen, zündet sich Pedro eine Zigarette an. »Hörst du, der Klang der Schaufeln hat sich geändert! Meine Freunde werden gleich auf einen Hohlraum stoßen! Das höre ich ganz deutlich!« Ob sich Pedro nur wichtigmachen möchte?
Tatsächlich bricht nach einigen Minuten verhaltener Jubel aus. Pedro und ich nähern uns hastig dem Loch. Schwarze Leere lässt fast ein wenig schaudern. Mir ist, als stünde ich vor einem gefährlichen Schlund. Wie tief mag er sein? Zwei Meter? Oder sind es drei? Die Männer können in der kurzen Zeit nicht so viel gegraben haben. Sie sind offenbar auf einen unterirdischen Hohlraum nah an der Oberfläche der Wüste gestoßen. »So etwas erkennt unser Späher an der Verfärbung im Sand!« erklärt mir später Pedro.
Pedro ist im Moment nicht nach sprechen zumute. Auch wenn er es zu verbergen versucht: Er ist vom Fieber des Grabräubers befallen, von der Hoffnung auf kostbare Grabbeigaben. Pedro klettert an einer Strickleiter in das schmale Loch. Eine Taschenlampe leuchtet auf. Das Szenario ist mehr als gespenstisch. Pedro lädt mich ein. Ich soll, darf ihm zu folgen. Wenige Augenblicke später beuge ich mich über eine bleiche Mumie.
Das Gesicht des Toten erinnert an einen Horrorfilm unserer Tage. Es ist hinter einer schwarzen Maske verborgen. Der Mund ist zu einem Schmerzensschrei geöffnet. »Damit die Seele wieder in ihre alte Behausung zurückkehren kann!« erklärt mir Pedro. »Wir berauben die Gräber! Aber wir haben den Respekt vor den Toten nicht verloren!« Er zischt fast etwas gehässig: »Ob die gelehrten Archäologen auch so respektvoll sind?« Er schüttelt energisch den Kopf. »Wir belassen die Toten in den Gräbern! Die Archäologen holen sie heraus und stecken sie in Museumsvitrinen, wo sie von Neugierigen begafft werden!«
Pedro deutet auf die lederartigen Hände des Leichnams. Sie sind offensichtlich mit einem sehr scharfen Instrument glatt abgeschnitten worden. Dann hat man sie mit einfachen Schnüren wieder an den Armstümpfen befestigt. Pedro zieht bedächtig den wirklich sehr gut erhaltenen Stoff zur Seite. Der Körper des Toten kommt zum Vorschein. Sein Leib wirkt fremdartig, ja irgendwie unnatürlich. Pedro erklärt leise: »Es gab vor Jahrtausenden einen einheitlichen Bestattungsritus. Bevor die Verstorbenen der Erde übergeben wurden, verfuhr man mit ihnen nach genau vorgeschriebenen Zeremonien! Man hat zunächst das Gehirn entfernt. Es wurde durch ein Gemisch aus Asche und Stroh ersetzt. Sämtliche Innereien wurden dem Leib genommen. Damit der Körper seine natürliche Form behielt, wurde er wieder gefüllt: mit einem Brei aus Gras, Asche und Fischleim. Manchmal mengte man auch Tierblut bei!« Mir wird etwas unwohl. Ich klettere aus dem Loch. Der Weg nach oben über die Strickleiter fällt mir schwerer.
Pedro und seine Gehilfen sind etwas enttäuscht. Wieder gab es nicht den ersehnten Goldschatz. Und doch sind sie mehr als zufrieden. Der Tote war mit mehreren kunstvoll gestalteten Tongefäßen bestattet worden. Besonders erfreut sind die Männer über einige kleine Tonfiguren. »Das sind die Diener, die dem Verstorbenen im Jenseits zur Hand gehen sollen!« erfahre ich. Sorgsam werden die archäologischen Kostbarkeiten in Säcken verstaut. Kein Wissenschaftler wird sie je zu sehen bekommen. Sie werden in privaten Sammlungen reicher Nordamerikaner oder Europäer verschwinden. »Dieser Fund bringt jedem von uns mehr Dollars ein als wir in einem ganzen Monat mit anderer Arbeit verdienen können! Und die Gringos wollen nun einmal archäologische Schätze besitzen! Wenn wir sie nicht beliefern, dann tun es andere!«
Bevor das so schnell ausgehobene Loch wieder geschlossen wird, steigt Pedro noch ein letztes Mal die Strickleiter hinab. Was hat er vor? Warum hat er ein Beil mit hinab genommen? Ein Krachen und Splittern ist zu vernehmen. Das Geräusch geht durch Mark und Bein. Pedro erklärt mir auf dem Rückweg: »Wir berauben die Toten! Wir ziehen uns ihren Zorn zu! Wir fürchten ihre Rache! Dabei gehen wir doch respektvoll mit ihnen um. Bevor wir ihnen die Knochen zerschlagen, entschuldigen wir uns bei den Toten!«
Grabräuber haben kein Interesse an Knochen
Ob denn Gefahr von totem Gebein ausgeht, will ich wissen. Pedro bleibt kurz stehen. Herablassend lächelt er mich an. Er murmelt etwas von »ahnungslosen Gringos!« Im Weitergehen doziert er: »Es ist zu befürchten, dass der Geist eines Toten in seinen Körper zurückkehrt. Als Zombie kann er dann in die Welt der Lebenden zurückkommen und sich den Menschen rächen, die ihn bestohlen haben!« Ich möchte wissen, ob Pedro jetzt vielleicht Angst hat. »Nein!« antwortet er etwas barsch. »Dieser Tote wird nicht mehr aus seinem Grab herauskriechen! Ich habe ihm die Beinknochen zerschlagen. Und das Rückgrat!« Sehr respektvoll ist dieser Umgang mit Toten aber nicht, denke ich. Meine Überlegungen behalte ich aber für mich. Ich will nicht richten über die Grabräuber. Schließlich war ich mit ihnen unterwegs, also auch an der Störung der Totenruhe beteiligt.
Von albtraumartigen Träumen in den folgenden Nächten, in denen Zombies eine nicht unerhebliche Rolle spielen, will ich lieber schweigen!
5. Mahabalipuram (Indien) und Raumschiffe in Stein
Mahabalipuram (eigentlich Mamallapuram) liegt im Bundesstaat Tamil Nadu, direkt an der Südostküste Indiens. Von Chennai (Madras) aus erreicht man die mysteriöse Tempelstadt über die Küstenstraße in etwa einer Stunde. »Gemäßigtes Klima« soll hier herrschen, versprechen die Reiseführer. Als ich aus dem Bus steige, kommt es mir vor, als habe ich mich in eine gewaltige Sauna verirrt. Schon nach kürzester Zeit klebt die Kleidung wie eine zweite Haut am Leibe. Ein sandiger Badestrand lädt verführerisch zu einer Abkühlung ein. Die gefräßigen Haie sollen sich angeblich nur weiter draußen, im tieferen Wasser, aufhalten. Mag sein, dass es so eine Art von stillschweigendem Abkommen zwischen Hai und Mensch gibt, doch ist darauf Verlass?
Heute ist Mahabalipuram ein verschlafenes Fischerdorf, immer noch. Einst muss es ein bedeutendes religiöses Zentrum gewesen sein, vor etwa eineinhalb Jahrtausenden. Irgendwann versank die einstige Hafenstadt der Metropole Kanchipuram in den Schlaf des Vergessenwerdens. Erst 1984 nahm die UNESCO Mahabalipurams Tempelbezirk ins »Weltkulturerbe« auf.
Besonders imposant ist das größte Flachrelief der Welt: 27 Meter breit und neun Meter hoch. Angeblich soll das riesige Bildnis »Arjunas Buße« darstellen. Für welche Missetat mag die legendäre Gottheit wohl bestraft werden? Das durch die meisterliche Präzision bestechende Kunstwerk bezieht ganz bewusst einen natürlichen Felsspalt ein. Hier soll einst Wasser geflossen sein, plastisch-realistisch den heiligen Strom Indiens darstellend. Und so heißt das gewaltige Kunstwerk auch: »Herabkunft des Ganges vom Himmel«.