Bis »Magdalena« im Distrikt Tingo fahren wir mit dem Jeep. Seit über vier Jahrzehnten begegnet mir bei meinen Recherchen immer wieder Maria Magdalena, so auch im Reich der Wolkenkrieger.
Einer uralten Legende zufolge lag einst die kleine Siedlung hoch oben auf dem Berg. Ein prophetischer Priester sah in einer Vision ein Erdbeben das Dorf auslöschen. Er warnte die Menschen, doch sie hörten nicht auf ihn. Ausgelassen feierten sie – es war der 20. Juli – das Fest der Maria Magdalena. Traurig holte der Priester die Statue der Maria Magdalena aus der Kirche und trug sie den Berg hinab. Auf halber Höhe entdeckte er eine schäbige Hütte. Dort fand der Gottesmann mit der Statue der Maria Magdalena Zuflucht. Kurz darauf schien die Welt unterzugehen. Ein gewaltiges Erdbeben apokalyptischen Ausmaßes brach über die Menschen aus, viele kamen um. Das Dorf wurde vollständig vernichtet. Die kleine Hütte aber blieb unversehrt. Die Überlebenden bauten an der Stelle, wo der Priester die Katastrophe überlebt hatte, eine Kirche zu Ehren der Maria Magdalena. Und rund um die Kirche entstand – der Überlieferung zufolge – das neue »Magdalena«.
Von »Magdalena« aus sei es »nicht mehr weit« bis zu den Grabtürmen von Macro. Das höre ich immer wieder. Und zu verfehlen sind sie auch nicht. Man muss nur Richtung Utcubamba marschieren, dann kommt man sicher ans Ziel. Immer wieder sieht man sie, die geheimnisvollen Bauten. Und solange man den Utcubamba-Fluss links liegen lässt, so lang kann nichts passieren! Voller Optimismus machen wir uns auf den Weg.
Ein sehr anstrengender Marsch von mehreren Stunden bergauf, häufig durch dichtes Gestrüpp, immer wieder an steil abfallenden Klippen vorbei, scheint kein Ende nehmen zu wollen. Das Rauschen des Flusses begleitet uns. Immer wieder sieht man ihn, tief unten. Ängstlich drückt man sich dann an die Felswand, um nicht abzustürzen. Rechts geht die steinerne Felswand steil nach oben, links geht es kaum weniger Steil senkrecht in die Tiefe. Und weit unten hört man das Tosen des Flusses.
Immer wieder glaubt man, endlich am Ziel zu sein, doch dann gilt es wieder, einen Steilhang hinab zu klettern, um gleich wieder emporzusteigen. Der schmale Pfad bringt uns schließlich und endlich an die geheimnisvolle Stätte.
Die Totentürme trotzen den Jahrhunderten. Millimetergenau sind die sauber bearbeiteten Steine an- und aufeinandergereiht. Dienten sie nur als Grabstätten? Oder wohnten besondere Würdenträger ganz in der Nähe der Mumien? Man konnte nachts mit den Bewohnern von Kuelap Nachrichten austauschen, heißt es: mit Feuersignalen.
Übermenschengroß – die stehenden Sarkophage
Wir wissen, dass die Chachapoyas mehrere Meter hohe Sarkophage, meist aus Lehm und Astwerk, bauten. Diese »Särge« hatten Menschengestalt. Sie erinnern in ihrer stoischen Ruhe sehr stark an die Steinstauen der Osterinsel. Die »Sarg-Figuren« der Chachapoyas waren hohl. In ihrem Inneren kauerten in Embryohaltung die Toten. Ich sprach vor Ort mit Menschen, die voller Ehrfurcht der Chachapoyas gedenken. So erfuhr ich, woran die Chachapoyas vielleicht glaubten.
Nach mehr als vierzig Jahren intensiver Recherchen bin ich zur Überzeugung gelangt, dass die ältesten Kulturen Matriarchate waren. Die Religionen des Matriarchats handelten von der ewigen Wieder kehr des Lebens, vom zyklischen Ablauf des Weltgeschehens: Werden, Leben, Vergehen und neuerliches Geborenwerden, das war der endlose Kreislauf des Seins. Dachten die Chachapoyas ähnlich? Tote, die in Embryohaltung im Inneren von mächtigen Sarkophag-Statuen kauern, sie deuten darauf hin, dass der Tod als vorübergehendes Stadium angesehen wurde. Der Mensch stirbt, wird wieder zum Embryo, um in ein neues Leben geboren zu werden. Glaubten die Chachapoyas an die Wiedergeburt ihrer mumifizierten Toten: in einer »Geburt« aus den imposanten Sarg-Statuen?
Wir wissen, dass die Chachapoyas auf der Seite der Spanier kämpften. Fühlten sie sich den Christen im Glauben verbunden? Predigten doch auch die Christen die Auferstehung der Toten. Aber glaubten die Chachapoyas wirklich, dass die ausgetrockneten Mumien ohne »Innenleben« wieder auferstehen würden? Vielleicht wird es tatsächlich eines Tages gelingen, die eine oder andere Mumie zu neuem Leben zu erwecken, allerdings auf andere Art und Weise, als die Chachapoyas einst dachten. Per Cloning kann womöglich der eine oder andere »Zwilling« der einen oder anderen Mumie neu geboren werden, um wieder zum Erwachsenen zu werden.
Die stehenden Särge erinnern an Osterinselstatuen
Im Verlauf der Jahrhunderte machten die Mumien viel mit. Die Sarkophage – sie erinnern an die Statuen der Osterinsel – wurden bald gesuchte Objekte von Grabräubern. Die harte Hülle solcher Grabfiguren wurde zerschlagen. Die Mumien wurden herausgezerrt und die Grabtücher, in die sie eingewickelt waren, brutal abgerissen. Die Grabräuber suchten – und fanden – wertvolle Grabbeigaben. Die Mumien ließen sie achtlos liegen. Die Geschichte der Grabräuber ist fast so alt wie die Mumien selbst. Und auch heute noch wird das Gewerbe betrieben. Todesmutig wagen sich die Plünderer in Steilwände, um an die Grabstätten heranzukommen. Wie vor Jahrhunderten werden auch heute noch Mumien zerstört, um an Schätze zu kommen.
Sehr häufig finden Archäologen verwüstete Grabstätten vor. Sie freuen sich, wenn die Diebe etwas übersehen haben. Gelegentlich werden in unseren Tagen Grabräuber auf frischer Tat ertappt oder vertrieben. Vielleicht wollen die Ordnungshüter auch nicht wirklich jemanden verhaften. Vielleicht sind es ja Verwandte oder Bekannte. Nicht immer handeln die Polizeikräfte im Sinne der Archäologen. Manchmal »schaffen sie Ordnung« in der Wüstenei, die die Grabräuber hinterlassen haben und zerstören weitere wichtige verwertbare Spuren, die den Archäologen weiterhelfen hätten weiterhelfen können.
In Leimembamba lagern zur Zeit unseres Besuchs 200 Mumien in einem angeblich »klimatisierten« Raum. Die vielleicht fast eintausend Jahre alten Mumien sollen nicht den Temperaturveränderungen ausgesetzt sein. Sie wurden im Jahr 1996 oberhalb der Bucht »Laguna de los Cóndores« (»Lagune der Kondore«) entdeckt. Die Aufbewahrung der sterblichen Überreste der legendären Chachapoyas kann ganz und gar nicht als pietätvoll bezeichnet werden. In Pappkartons, Kisten aus Sperrholz und in Säcken warten die Mumien darauf, wissenschaftlich untersucht und in einem Museum ausgestellt zu werden.
Einige kurze, kritische Anmerkungen seien gestattet: Ob aus Sicht der Chachapoyas der Unterschied zwischen Grabräubern und Wissenschaftlern wirklich so eklatant ist, wie wir uns das einreden? Die Toten wurden von wagemutigen Kletterkünstlern oftmals unter Lebensgefahr an möglichst unzugänglichen Steilwänden in Felsspalten zur letzten Ruhe gebettet: in Sarkophagen in Menschengestalt, manchmal auch in Holzsärgen. Bis zu ihrer Wiedergeburt sollten die Toten in Ruhe gelassen werden. Ohne Zweifel sind Grabräuber aus Sicht der Chachapoyas böse Frevler, denen nichts heilig ist. Ich glaube nicht, dass die Chachapoyas einen Unterschied zwischen Dieben und Wissenschaftlern gemacht hätten. Für sie waren sie alle Plünderer: jene, die wertvolle Schätze finden und verkaufen wollen und jene, die die Mumien aus wissenschaftlicher Neugier und mit Pedanterie sezieren. Dabei dürfte es keine Rolle spielen, dass Archäologen meinen, sorgsamer mit den Toten umzugehen. Die Ausstellung eines Verstorbenen im wohl klimatisierten Museum in einer gläsernen Vitrine entspricht mit Sicherheit nicht der Vorstellung der Chachapoyas vom würdevollen Umgang mit Verstorbenen. Und die »Zwischenlagerung« der Toten in einem klimatisierten Depot hätte die Chachapoyas sicher entsetzt.
Einst standen Särge in Menschengestalt in Felsenklippen, stolz, aber auch irgendwie drohend. In ihrem Leib lagen Mumien, oft in Embryohaltung, als warteten sie darauf, erneut in die Welt der Lebenden geboren zu werden.
3. Der unheimlichste Friedhof der Welt
Auf dem Friedhof