Die Zeit der Völkerwanderung: 14 Historische Romane. Felix Dahn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Felix Dahn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027222049
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erwarten und in Sicherheit bringen, nach meiner Villa im Bolsener See. Folge und vertraue.

      Gerührt ließ Amalaswintha den Brief sinken: der vielgetreue Cassiodor! Er hatte sie doch nicht ganz verlassen. Er bangte und sorgte noch immer für das Leben der Freundin. Und jene reizende Villa auf der einsamen Insel im blauen Bolsener See! Dort hatte sie, vor vielen, vielen Jahren, als Gast Cassiodors, in voller Blüte der Jugendschönheit, Hochzeit gehalten mit Eutharich, dem edlen Amalungen, und von allem Schimmer der Macht und Ehren umflossen, ihrer Jugend stolzeste Tage gefeiert.

      Ihr sonst so hartes, aber jetzt vom Unglück erweichtes Gemüt beschlich mächtige Sehnsucht, die Stätte ihrer schönsten Freuden wiederzusehen. Schon dies eine Gefühl trieb sie mächtig an, der Mahnung Cassiodors zu folgen: noch mehr die Furcht – nicht für ihr Leben, denn sie wollte sterben –, die Raschheit ihrer Feinde möchte ihr unmöglich machen, das Volk zu warnen und das Reich zu retten. Endlich überlegte sie, daß der Weg nach Regata bei Rom, wo in Bälde die große Volksversammlung, wie alljährlich im Herbst, stattfinden sollte, sie am Bolsener See vorüberführte. Also war es nur eine Beschleunigung ihres Planes, wenn sie schon jetzt in dieser Richtung aufbrach. Um aber auf alle Fälle sicherzugehn, um auch, wenn sie das Ziel ihrer Reise nicht erreichen sollte, ihre warnende Stimme an das Ohr des Volkes gelangen zu lassen, beschloß sie einem Brief an Cassiodor, den auf seiner Villa anzutreffen sie nicht bestimmt voraussetzten konnte, ihre ganze Beichte und die Enthüllung aller Pläne der Byzantiner und Theodahads anzuvertrauen.

      Bei geschlossenen Türen schrieb sie die schmerzreichen Worte nieder, heiße Tränen des Dankes und der Reue fielen auf das Pergament, das sie sorgfältig siegelte und dem treuesten ihrer Sklaven übergab, es sicher nach dem Kloster Squillacium in Apulien, der Stiftung und dem gewöhnlichen Aufenthalt Cassiodors, zu befördern.

      *

      Langsam verstrichen der Fürstin die zögernden Stunden des Tages. Mit ganzer Seele hatte sie des Freundes dargebotene Hand ergriffen. Erinnerung und Hoffnung malten ihr um die Wette das Eiland im Bolsener See als ein teures Asyl, dort hoffte sie Ruhe und Frieden zu finden. Sie hielt sich sorgsam innerhalb ihrer Gemächer, um keinem ihrer Wächter Veranlassung zum Verdacht, Gelegenheit, sie aufzuhalten, zu geben. Endlich war die Sonne gesunken.

      Mit leisen Schritten eilte Amalaswintha, ihre Sklavinnen zurückweisend und nur einige Kleinodien und Dokumente unter dem weiten Mantel bergend, aus ihrem Schlafgemach in den breiten Säulengang, der zur Gartentreppe führte. Sie zitterte, hier wie gewöhnlich auf einen der lauschenden Späher zu stoßen, gesehen, angehalten zu werden. Häufig sah sie sich um, vorsichtig blickte sie sogar in die Statuennischen: alles war leer, kein Lauscher folgte diesmal ihren Tritten. So erreichte sie unbeobachtet die Plattform der Freitreppe, die Palast und Garten verband und weiten Ausblick über diesen hin gewährte. Scharf überschaute sie den nächsten Weg, der zum Venustempel führte. Der Weg war frei.

      Nur die welken Blätter raschelten wie unwillig von den rauschenden Platanen auf die Sandpfade nieder, gewirbelt von dem Winde, der fern, jenseits der Gartenmauer, Nebel und Wolken in geisterhaften Gestalten vor sich her trieb: es war unheimlich in dem ausgestorbenen Garten und seiner grauen Dämmerung.

      Die Fürstin fröstelte, der kalte Abendwind zerrte an ihrem Schleier und Mantel, einen scheuen Blick warf sie noch auf die düsteren, lastenden Steinmassen des Palastes hinter sich, in dem sie so stolz gewaltet und geherrscht, und aus dem sie nun einsam, scheu, verfolgt wie eine Verbrecherin, flüchtete. Sie dachte des Sohnes, der in den Tiefen des Palastes ruhte. – Sie dachte der Tochter, die sie selbst aus diesen Mauern, aus ihrer Nähe verbannt hatte.

      Und einen Augenblick drohte der Schmerz die Verlassene zu überwältigen. Sie wankte, mühsam hielt sie sich aufrecht an dem breiten Marmorgeländer der Terrasse: ein Fieberschauer rüttelte an ihrem Leibe wie das Grauen der Verlassenheit an ihrer Seele.

      «Aber mein Volk!» sprach sie zu sich selbst, «und meine Buße – ich will’s vollenden.» Gekräftigt von diesem Gedanken eilte sie die Stufen der Treppe hinab und bog in den von Efeu überwölbten Laubengang ein, der quer durch den Garten führte und an dem Venustempel mündete. Rasch schritt sie voran, erbebend, wenn zu einem der Seitengänge das Herbstlaub wie seufzend hereinwirbelte.

      Atemlos langte sie vor dem kleinen Tempel an und ließ ringsum die suchenden Blicke schweifen. Aber keine Sänfte, keine Sklaven waren zu sehen, rings war alles still: nur die Äste der Platanen seufzten im Winde.

      Da schlug das nahe Wiehern eines Pferdes an ihr Ohr.

      Sie wandte sich: um den Vorsprung der Mauer bog mit hastigen Schritten ein Mann. Es war Dolios. Er winkte, scheu umherspähend. Rasch eilte die Fürstin auf ihn zu, folgte ihm um die Ecke, und vor ihr stand Cassiodors wohlbekannter gallischer Reisewagen, die bequeme und vornehme Carruca, von allen vier Seiten mit verschiebbaren Gitterläden von feinem Holzwerk umschlossen, und mit dem raschen Dreigespann belgischer Manni beschirrt.

      «Eile tut not, o Fürstin», flüsterte Dolios, sie in die weichen Polster hebend. «Die Sänfte ist zu langsam für den Haß deiner Feinde. Stille und Eile, daß uns niemand bemerkt.»

      Amalaswintha blickte noch einmal um sich.

      Dolios öffnete das Tor des Gartens und führte den Wagen vor dasselbe hinaus. Da traten zwei Männer aus dem Gebüsch: der eine bestieg den Sitz des Wagenlenkers vor ihr: der andere schwang sich auf eines der beiden gesattelt vor dem Tore stehenden Rosse. Sie erkannte die Männer als vertraute Sklaven Cassiodors, sie waren wie Dolios mit Waffen versehen. Dieser sperrte wieder sorgfältig das Gartentor und ließ die Gitterladen des Wagens herab. Dann warf er sich auf das zweite der Pferde und zog das Schwert: «Vorwärts!» rief er.

      Und von dannen jagte der kleine Zug, als wär’ ihm der Tod auf der Ferse.

      Fünftes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Die Fürstin wiegte sich in Gefühlen des Dankes, der Freiheit, der Sicherheit. Sie baute schöne Entwürfe der Sühne.

      Schon sah sie ihr Volk durch ihre warnende Stimme gerettet vor Byzanz, vor dem Verrat des eignen Königs. Schon hörte sie den begeisterten Ruf des tapferen Heeres, der den Feinden Verderben, ihr aber Verzeihung kündete. In solchen Träumen verflogen ihr die Stunden, die Tage und Nächte. Unausgesetzt eilte der Zug vorwärts: drei-, viermal des Tages wurden die Pferde des Wagens und der Reiter gewechselt, so daß sie Meile um Meile wie im Fluge zurücklegten.

      Wachsam hütete Dolios die ihm anvertraute Fürstin, mit gezogenem Schwert schützte er den Zugang zum Wagen, während seine Begleiter Speise und Wein aus den Stationen holten. Jene geflügelte Eile und diese treue Wachsamkeit benahmen Amalaswinthen einer Besorgnis, deren sie sich eine Weile nicht hatte erwehren können: ihr war, sie würden verfolgt.

      Zweimal, in Perusia und in Clusium, glaubte sie, wie der Wagen hielt, ja in Clusium meinte sie, aus dem niedergelassenen Gitterladen zurückspähend, eine zweite Carruca, ebenfalls von Reitern begleitet, in das Tor der Stadt einbiegen zu sehen.

      Aber als sie Dolios davon sprach, jagte der spornstreichs nach dem Tore zurück und kam sogleich mit der Meldung wieder, daß nichts wahrzunehmen sei; auch hatte sie von da ab nichts mehr bemerkt, und die rasende Eile, mit der sie sich dem ersehnten Eiland näherte, ließ sie hoffen, daß ihre Feinde, selbst wenn sie ihre Flucht entdeckt und eine Strecke weit verfolgt haben sollten, alsbald ermüdet zurückgeblieben seien.

      Da verdüsterte ein Unfall, unbedeutend an sich, aber unheilkündend durch seine begleitenden Umstände, plötzlich die helle Stimmung der flüchtenden Fürstin.

      Es war hinter der kleinen Stadt Martula.

      Öde, baumlose Heide dehnte sich unabsehbar nach jeder Richtung: nur Schilf und hohe Sumpfgewächse ragten aus den feuchten Niederungen zu beiden Seiten der römischen Hochstraße und nickten und flüsterten gespenstisch im Nachtwind. Die Straße war hin und wieder mit niedern, von Reben überflochtenen Mauern eingefaßt und, nach altrömischer Sitte, mit Grabmonumenten, die aber oft traurig zerfallen waren und mit