1431. Sophie Reyer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sophie Reyer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783707607277
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auch in ihr.

      Mit den Wochen raubt die Zeit auch den Bäumen ihr Kleid. Das kommt wieder, dieses Gefieder, weiß Johanna. So hätte es auch die Großmutter gesagt. Doch die ist jetzt weit weg. Verlässt kaum noch das Bett, Johanna leidet an den Herbsten, an dem ewigen Abschied vom Leben. Alles ist mit Stroh umhüllt in diesen Tagen, silbern wird der Wald von Reif überzogen, die Goldfische verbergen sich am Grund des Teichs, verweigern der Welt ihre Geschichten. Der Boden des Teichs ist mit grünem Schlamm bedeckt.

      Im Schatten formen sich indes fremde Bilder und Welten, die sie an die Märchen der Großmutter erinnern. Wie Feen oder Engeln sind sie, die Umrisse der Berge am Horizont, die mit der Dunkelheit und dem Vorbeirauschen der Wolken im Schatten zu wanken scheinen. Ein Flimmern. Fremd bleibt die Welt, auch jetzt, da Johanna wächst. Oft geht sie spazieren. Um sie herum lang gestreckte Waldbrücken und Wege, die sie alle schon kennt. Der Sonnenuntergang umsäumt den absterbenden Tag mit Arabesken. Hieroglyphen die Bäume, sie zeichnen ihre Spuren in die Luft. Johanna sucht Gott in ihnen. Wälder und Burgen lösen sich im Hintergrund auf. Bald schon ist alles in Weiß gehüllt. Das Leben eine Schneewehe. Welt in Federn. Die Bäume, Fichten und Tannen, unter der Last des Schnees gebeugt, sind in die Schlafgrätsche gegangen. Johanna kann diese Welt einfach nicht begreifen. Je älter sie wird, umso weniger. Aber auch heimelig wird es im Zimmer und im Ofen knackt und knarrt das Holz.

      Einen Leuchter, hoch, ganz knöchern, stellt man jetzt in die Mitte der Stube, dass das Licht aus ihm flackern möge. Spinnerinnen errichten Bänke und Stühle rundherum und man plaudert. Von Frau zu Frau. Johanna sucht die Vertrautheit mit den Menschen und lernt, die Spiele und die Rituale mitzuspielen. Bald ist Weihnachten.

      Die Weihnachtsäpfel sind etwas Besonderes. Man zerschneidet sie und findet runde Sternchen darin. Es heißt, dass sie gesund sind, die Äpfel, weiß Johanna Bescheid. So legt man sie unbekümmert ins Rohr.

      »In den Äpfeln sind Sterne!«, sagt Johanna.

      »Ja, alles hängt miteinander zusammen!«, entgegnet die Großmutter.

      »So komme auch ich in dir vor, Großmutter, oder?«, will Johanna wissen.

      »Ja. Und wenn ich tot bin, hast du mich ganz bei dir!«, antwortet diese.

      »Kann der Tod sterben?«, fragt Johanna.

      »Ja. Und jeden Sommer kommt er als Leben wieder und singt sein Lied!«

      Dass die Großmutter recht hat, begreift Johanna immer, wenn sie die Natur betrachtet: Wie das Morgenrot die Himmel vergoldet, wie die Vögel höher und höher steigen wollen, alles vergoldet, auch im Winter, sogar das Morgenrot ist mit dem Dunkel verbunden, ergießet sich aus ihm. Und der Wind, denkt Johanna, der lehnt sich an den Baum. Zerdrückt ist der Hals des Baumes. Dennoch tanzt er mit dem Wind. Und die Fische tanzen mit dem Wasser. Das Wasser ist ein Pferd, jagt dahin, ist im Strom wie das ganze Leben, denkt Johanna. Und das Tal ist ein See. Der Wind verweht zu Luft, Licht, zu Sonne und Gott. Alles verwandelt sich. Nur in der Stube bleibt es warm, wenn das Feuer weiterhin brennt. Das Feuer ist ein Märchen, denn in ihm huschen und tanzen die Bilder sich zu Flammen aus, regnet es Funken, leuchtet die Welt. So spielt das Feuer mit dem Holz, während es dieses auffrisst. Der Wind spielt mit den Ästen des Baumes und klaubt dann ihr Laub auf, trägt es weit fort. Das muss einen Sinn haben, denkt Johanna. Auch, dass die kahlen Bäume sich einander zuneigen. Beieinander Zuflucht suchen. So wie die Menschen gegenseitig ihre Nähe suchen, wenn der Winter kommt, wenn sie hungrig sind oder müde und ihnen kalt ist. Dann sind die Blüten wieder Kinder, die Blumen Jungfrauen, die Natur behütet ihre Wurzeln.

      »Wenn die Bäume einander liebkosen, wird es ein gutes Jahr!«, sagte die Großmutter immer.

      »Was wissen Bäume von Liebe?«, denkt Johanna entmutigt, wenn in ihr kein Gott spricht. Dennoch – da ist Hoffnung. Einen Zuruf aus einer anderen Zeit, immer wenn die Großmutter spricht.

      Ein Ruck durchfährt plötzlich den Himmel. Die Heiligen, denkt Johanna, endlich, sie kommen. Und mit einem Mal wird es so hell, dass sie fast erblindet. Sie staunt. Die Frauen sind von blendendem Weiß. Sie waschen ihre Wäsche im Brunnen im Hof.

      »Das ist der ewige Brunnen!«, wispern sie.

      »Wer aus der Quelle trinkt, der wird jung. Denn Wasser ist Fruchtbarkeit«, weiß Johanna Bescheid.

      »Woher kommt die Quelle?«

      »Von den Tränen der Großmutter. Sie musste Abschied von ihren Kindern nehmen.« An den Quellen entstanden Brunnen.

      Johanna überlegt. So hell glitzern die Kleider der Heiligen auf der Oberfläche des Wassers, dass es weh tut.

      »Das Wasser sticht!«, sagt Johanna und schließt die Augen.

      »Es ist ein wundertätiger Splitter«, weiß die Großmutter jedoch Bescheid.

      »Es tut einem weh. Aber es wird alle heilen.«

      In dem Moment kommt ein Hirsch vorbeigelaufen. Johanna betrachtet ihn. Das Geweih des Edelhirsches, es hat die Form eines der Instrumente, auf denen der Vater immer spielt. Die Musik Gottes kann darauf gespielt werden, sagt er.

      Die Großmutter lächelt.

      »Das Leben bedeutet er. Sein Gehörn ist ein Pfeil, kann verwunden oder heilen. So ist es mit allem im Leben.«

      »Wie wird man geheilt?«

      »Man muss zaubern. Eine Druidin tut das. Aber das ist ein Geheimnis!«

      Johanna überlegt. Die Antwort ist ihr zu vage.

      »Ja, aber wie?«, bohrt sie nach. »Wie wird man Druidin?«

      »Man heilt sich selbst!«

      »Auch von Blindheit?«

      »Ja! Immer hat man früher den Göttern in den Wäldern gehuldigt«, sagt die Großmutter und lacht. »Wer braucht eine Kapelle?«

      Johanna blickt sich rasch um. Hoffentlich hat der Vater sie nicht gehört, denkt sie.

      »Und noch ein Geheimnis: Ein Schloss ist da unter dem Wasser. Bei Vollmondschein kannst du die Anderwelt betreten, die darin liegt!«

      »Ehrlich?«

      »Ja!«

      Johanna wird von einer großen Sehnsucht erfasst.

      »Da hausen auch die Anderweltfürsten. Seit Artus warten sie auf ihre Wiederkehr. Es braucht dafür eine Jungfrau.«

      Johanna nickt und mit einem Mal begreift sie, wen die Großmutter meint.

      »Mich«, sagt Johanna.

      »Ja.«

      Ganz ohne Eitelkeit sagt sie es: »Mich!«

       4. Feenbaums Wunder

      Als er Johanna nach diesem Verhör in ihrer Zelle besucht, scheint sich etwas in ihr gewandelt zu haben. Traurig und mit verzerrtem Mund kauert sie neben ihrem Bett und sieht ihn an. Auch sie wird wohl jemanden zum Reden brauchen, denkt er, oder? Er will schon kehrtmachen und nachdenken, wie er Johannas Herz erobern könnte – noch hat er sie nicht lange genug beobachtet –, doch da geschieht es. Wieder wird sie von einem der Soldaten angegriffen. Johanna schreit. Gerade noch rechtzeitig kann er zu Hilfe kommen, packt den Kerl am Kragen und wirft ihn gegen die Steinwand. In dem Moment erscheint der Earl von Warwick. Wallend seine Erscheinung. Er poltert, redet wütend auf den jungen Krieger ein. Johanna wischt sich mit zitternden Fingern über das Gesicht.

       »Ich kann gar nicht die Beinkleider abnehmen«, sagt sie leise, »sie kommen immer zu nahe.«

      Der Earl nickt.

      »Das wird nicht mehr vorkommen!«, meint er und mahnt den Kerl und die anderen Soldaten, die ihn umringen, sich zu beherrschen.

      Dann verlässt er die Räume des Kerkers, gefolgt von der geknickten Schar. Loyseleur ist nun wieder mit Johanna allein.

      »Brauchst du denn