Noch ist sie klein. Noch hält die hitzige atmende Steppenlandschaft das Schicksal der Welt in der Hand. Johanna ist Kind und ist glücklich. Kann man sich vom Himmel abstoßen? Nein, man kann es nicht. Und stets kehrt der Frühling wieder. Der Frühling ist schön und nutzlos. Er eröffnet ihr einen Blick in die Durchsichtigkeiten der Welt. Es ist, als würde Johanna Wind sehen, wenn Frühling kommt. Oder Luft. Oder Gott. Wenn indes schon Dreschzeit ist, riecht es nach Hitze und Heu. Johanna hat Freundinnen, mit denen spielt sie am Feenbaum. Und auch sonst: Sie stecken in Garben, sie klettern auf Heuballen. Johanna ist Kind und sie ist alles, die Landschaften, die Hitze, die versengten Tage. Disteln im Haar und Webkugeln, vom Herumtollen, vom Klettern auf das Baumhaus. Aufgeschreckt in den Tag hinein. Nachts pumpert es manchmal am Gang und sie hat Angst. Aus den nachtschwarzen Himmeln schreit es. Für einen Moment schwirren dann die geheimen Angstgeister heran. Dass es nur Fledermäuse und Falken sind, die am Sims hausen, weiß Johanna da noch nicht. Durch ihre Kindheit torkeln Angst und Freude wie eine Katze und Johanna hascht nach dem Schwanz der Katze, ein Kitzeln und ein Tappen. Sie zieht mit klobigen Händen daran. Aber mit dem Tod und der Nacht kommen auch immer wieder Narben um Narben, ungesehen, ungesagt. Johanna holt sich einen weichen Moospolster, den sie streichelt gegen die Angst. Sie liebt die Eicheln, den Kiesel. Wer Steine missbraucht, missbraucht auch Menschen, weiß Johanna. Nie hebt sie einen Stein auf. Nie wirft sie einen Stein. Friedlich soll das Dasein sein, wie die Großmutter es sagt, findet sie. Alles liegt doch in seiner Fülle! Hinterm See ist die Ferne und atmet Magie. Um den Mond, der eine Hostie ist, liegt ein Hauch: Dunst, Dunkel. Das Glück ist die streichelnde Großmutterhand. Manchmal trennt nur eine Nacht den Sommer vom Winter und die Tage sind hell. Im Winter dehnt sich das Eis, auf dem schwer ein Nebel ruht. Blutig steht eine Sonne am Horizont. Die Erde. Ihr lichtgewirktes Kleid. Wie Fieber brennend durch die Adern glüht, so ist Gott, weiß Johanna Bescheid. Da fällt ihr auf, dass ihr Arm ein Gelenk hat. Dicke Wurzeln wachsen aus ihrem Wald. Die Welt. So beschäftigt sie sich nach und nach mit ihrem Körper: Die Haare flechten, die Knochen sortieren, aufstehen, immer wieder und immer wieder, harte Arbeit auf dem Feld. Vor Hunger knabbert dieser Körper sich selbst an. Ungesehen. Schwer ist der Körper. Bloß wenn es ans Schlafen geht, dann verwandeln sich die Dinge und im Schlaf wird alles leicht. Die Nacht aber macht Angst, wenn man nicht schlafen kann und wach liegt.
Manchmal hilft dann das letzte brennende Licht auch nicht mehr gegen die Dunkelheit. Es macht die Schatten nur noch tiefer. Im Schrank des Zimmers fließen die Welten ineinander, lauern Geister neben Kleidern, lauert Furcht hinterm Alltag, hinter der harten Arbeit auf dem Feld. Unsagbare Angst hat Johanna dann, sie will leben, denn Gott ist eine Geranie, kommt in Massen und überschwemmt sie, rosa und schreiend, ja, eine Blumenflut, er ist eine Sonne, die sich in trägen, schwülen Wellen auf sie herab ergießt. Gott ist wie eine Handvoll Erde und einmal angefangen, in ihn hinab zu schlüpfen, kann sie gar nicht mehr heraus. Ihr Körper, eine Pflanze mit Gliedmaßen, mäandernd, der ewigen Sonne ausgesetzt, ja, mäandernde Melodie, wandernd, wieder und wieder, Schritt und Tritt in Blumen, lauert Gott ihr auf. Sucht in ihr das Steuerruder. Es ist wie eine Sucht. Ein Gewirke ist jedes Bild in ihr, Vorsinnen in sich selbst. Manchmal schweigt er aber auch.
Ach, könnte der Atem Vogel werden, denkt Johanna und denkt dabei an die Großmutter.
Sie tanzt auf den Stoppeln des Feldes, lässt sich lachend vom Regen verjagen, Johanna, windverknotet, und am Kehlkopf, diesem Ei, nistet schon das Singen. Bis es ausschlüpft, tanzt sie, einstweilen, um die Zeit zu überbrücken. Froh sind ihre Fingerglieder, wenn sie an der Luft nesteln dürfen: Gott, du bist da! Und die Hand ist eine salzene Wunde, die versucht, zu wachsen. Johanna schluckt sich die Zeit zurecht, die Angst hinterm Gaumen, und tanzt.
Käme ein Engel, wäre er Nest, Gefieder, denkt sie.
Die Blätter sind Gelenke, an denen der Wind rüttelt. Lippenbrand: Alles ist Gottes Geschöpf, versucht Johanna sich zu sagen, wieder und wieder. Die Wahrheit hat viele Seiten. Johanna bemüht sich, den Ausblick zu behalten. Dann kann etwas blühen, denkt sie.
Sie erzittert, als sie so von Gott durchschritten wird. Gott ist ein Lichtweber, entnimmt ihr alle Schwere. Er schwankt und bebt in ihr. Wie Äste im Wind. Wie sehr diese Landschaft bei sich ist! Johanna möchte ihr Leben aus sich herausschreien. Junge Vögel öffnen ihre Schnäbel wie in Atemnot. Auch sie wollen zu Gott. Der Sonnenschein entrückt Johanna ein wenig. Sie muss sich von Gott erholen, von ihrer Heiligkeit, von zu viel Lichtgespinst im Hirn. Dass es nicht einfach ist, denkt sie.
Da begegnet ihr erstmals ein Engel. Michael heißt er und er steht in der Landschaft wie ein Sturm. Michael dreht sich und sein Kleid bildet Wellen, ist eine schwarze, gewellte Flut ohne Ende. Sie wirft sich Michael in Falten voraus, die wie Zelte sind. Unter denen kann man sich verstecken, in die Grätsche gehen, weiterziehen, weiß Johanna. Ihr Saum verlangt nach Wind, Wildheit, und so läuft sie dazwischen durch, immer wieder. Sie reitet mit der Finsternis in Michaels Kleidern, reitet, peitscht dahin und die Finsternis gehorcht und wird Licht.
»Wie ist das Fegefeuer?«, fragt sie Michael, denn der Dorfpfarrer hat einmal erzählt, dass da die Seelen hinkommen.
»Da ist Übergang!«, antwortet der Engel.
»Ist das schlimm?«
»Nein, der Himmel folgt dir überall hin!«, entgegnet Michael.
»Aber wie ist es da?«, will Johanna wissen.
»Zwischen nichts und nichts schwebt man!«
»Also kein Halt?«
»Ja! Aber du bist jung. Also lächle. Nur lächelnd kann man Acker bauen.«
Johanna nickt. Sie weiß, dass Michael recht hat. Und Johanna wächst. Noch ist sie ein Kind, ganz knabenkühn. Gleichzeitig besitzt sie aber die Zartheit eines Schmetterlings, und die kommt von innen. Verschlissen ihre Kleider, wenn sie spielt, hängen die Fetzen von ihr herab.
Ja, Johanna kann wild sein: Sie ist ein Bauernmädchen. Doch den Tod will sie nicht, den leblosen Vogel in der Erinnerung, der von Raureif überzogen war. So läuft Johanna manchmal auch traurig und ziellos herum. Aus Angst.
»Was hast du, Kind? Was rennst du denn so?«, fragt die Großmutter einmal.
»Der Tod – er ist hinter mir her!«, ruft Johanna aus.
»Woher weißt du das?«
»Er kommt alle holen, sagt der Dorfpfarrer!«
»Dann halte dich an Gott!«
»Der ist zu weit oben!«
Johanna schweigt kurz.
»Und mir kommt vor: Recht hier ist das Leben erst, wenn’s ans Sterben geht!«, fügt sie plötzlich hinzu.
»Was du dir für Gedanken machst, Kind!«, lächelt die Großmutter.
»Ja!«
»Ach, Johanna.«
Immer wieder sucht Johanna sich auch gute Gedanken. Dass die Blumen sogar im Dunkeln im Walde fortblühen, denkt sie da. Sie lassen sich nicht umbringen. Aber sie sind kostbar. Nicht jeder Bauer hat welche.
Nun erscheint sie, das erste Mal deutlich: eine dünne, gläserne Stimme von innen. Flötenvögel im Kopf. In ihrem Wesen liegt eine Entschlossenheit, die jeden aufleuchten lässt, der ihr begegnet.
»Johanna, heilig bist du!«
Da lachen Johannas Augen.
Am Morgen steigen Wolken auf: Wenn der Wind