Auch über den Krieg lernt Johanna – schon 1425. Es ist das Jahr, in dem ihre Visionen beginnen. Eine englische Kriegshorde. Sie reitet in Orléans ein, treibt das Vieh weg. Bald schon ist alles niedergebrannt und geplündert. Orléans wird belagert und am 12. Oktober erscheint eine Staubwolke am Horizont vor Johannas Heimatdorf Domrémy. Man beschließt, die Kräfte auf den Stadtkern nördlich der Loire zu konzentrieren. Doch der Widerstand hilft nicht: Die Engländer richten bald mehr und mehr Schaden an. Graf von Dunois, ein junger aufstrebender Feldherr, übernimmt indes das Kommando in Orléans, erzählt man sich im Dorf. Ein Franzose. Man hofft, er würde zu Hilfe eilen, denn nun brennt Domrémy. Der Krieg wütet und Johanna rennt von dem Feuer fort in den Wald. Sie sucht Zuflucht bei den Heiligen. Betet, als das Dorf eingeäschert wird. Überall Lodern und helles, stechendes Licht. In ihrem Kopf, in ihrem Herzen. Es pulsiert. Allein die Statue der heiligen Margareta, sie ist zwischen den Steinen der Kirche unversehrt geblieben! Gott sei Dank. Johanna, noch Kind, kauert sich ihr zu Füßen nieder. Wie gut, denkt sie, dass du noch da bist, große Mutter! Und sie betet zu Margareta und denkt an die Großmutter. Die Heiligen, sie sind ein Narbenklan. Sie haben gelitten, weiß Johanna. Es hat sie entzwei geteilt. Auch in Johanna ist ein Riss, der groß und größer wird. Ein Schmerz, der keine Wände kennt. Der Riss heißt jetzt Krieg. Die Kriegshorde. Jetzt hat sie auch Domrémy heimgesucht. Obwohl es doch an der äußersten Grenze des Königreichs liegt. Die Felder liegen in Asche, der Vater sieht schwach aus. Der Handel kommt zum Erliegen, die Straßen liegen brach. Überall Bettler, vom Krieg Entwurzelte, Traurige, Stumme.
»Was hältst du von den Burgundern?«, fragt der Vater an einem der Abende Johanna.
»Wenn mir einer begegnet, dann wäre das Beste, man schlüge ihm den Kopf ab, so es Gott gefällt!«, ruft Johanna laut aus.
Doch der Krieg bringt nicht nur Böses: Mit ihm wird Gottes Stimme wieder laut.
»Du musst kämpfen, Johanna!«
Die Stimmen, sie schwirren um sie in diesen Tagen.
»Du musst Partei ergreifen, Johanna!«, sagen sie, wieder, wieder und wieder.
Es dauert nicht lang, bis Johanna ein Licht aufgeht: Für den König von Frankreich sind sie, die Stimmen! Oder? Sie fragt danach, aber noch ist die Antwort nicht eindeutig. Noch muss sich die Jungfrau gedulden. Gott macht nur langsam ein Werkzeug aus Johanna, und Johanna wartet auf seine Worte. Den Eltern gegenüber verschweigt sie es. Johanna weiß, man muss die Geheimnisse hüten. Nur die Schwester Catharine: Sie weiß Bescheid. Aber auch der Vater ahnt es. Mehr als Johanna lieb ist. Noch kann er wegsehen. Johanna indes erkennt ihre Magie. Mehr und mehr. Die Welt ist im Kristall, denkt sie, und ich habe die Kraft, sie zu verändern. So streift sie betend zum See. Hält man die Nase nahe ans Wasser, sieht man den Grund nicht – bloß den Himmel, oder? Und die scharfen Schilfblattränder. So ist es ein wenig mit der ganzen Welt, sagt sie sich. Die Wirren der Sonnenuntergänge. Rhythmen aus Farbe, Licht, Schatten. Schwer drückt sie die Welt nieder. Und doch: Wie schön sie ist! Dabei ahnt sie ihren eigenen Tod voraus, oder? Sie weiß um ihr Untergehen, jeden Abend.
Der Krieg und der Kampf scheinen also notwendig zu sein, begreift Johanna. Die Seele wird zum Sterben gezwungen. Dennoch schlummert die Lebenswärme in ihr! Und sie kann auferstehen. Johanna sammelt also all ihre Hoffnung zusammen. Sie betrachtet Fluss und Quelle. Genau wie das Wasser verliert sich Johanna in der Lebensflut.
»Zieh in den Krieg, Johanna!«
Sie dringt in ihn, dringt in Gott.
»Wann? Wohin? Wie genau?«
Doch es hilft nichts. Es ist nur dieser eine Satz. Dann bloß wieder Schweigen. Manchmal weiß Johanna dann nicht mehr weiter. Dann quälen sie fixe Zwänge, zerrissene Ideen im Hirn, die Erinnerung an bessere Zeiten in der Kindheit, die nach und nach ausbleibt. Schritt für Schritt meinem Schicksal gehorchen muss ich, denkt Johanna. Sie sucht Gott in den kleinen Ereignissen, im Licht. Und wie Gott sein, genau so! Das will sie jetzt. Damit das Gras ihrer Heimat wieder grün wird wie damals in der Kindheit! Sie will Lebenswärme, will schlummern, will wach sein. Gottes Widerschein sprenkelt mehr und mehr ihre inneren Wände, je größer das Leid wird. Wie der Regen will Johanna sein, strömen, immer strömen. Manchmal aber sind die Tage nur Perlenschnüre.
»Du musst jetzt bald los«, sagt Gott eines Morgens, »kämpfe!«
»Aber das bringt den Tod«, sagt Johanna, »und Schuld und Verderben!«
»Es ist nicht möglich, einander zu lieben, wenn wir uns nicht schuldig machen. Denn nur so erkennen wir die Verbundenheit mit den Menschen!«, sagt Gott.
Und wieder begreift Johanna, dass sich alles wiederholen muss, immer und immer wieder. Krieg und Verbitterung, Leben und Tod, Liebe und Freude. Es ist schwer zu ertragen. In der Kehle sitzt die Unmöglichkeit, zu schlucken. Die Angst ist ihr zugedacht. Von ihr kann man nur in Gott hineinlaufen. Oder in die Messe. Aber seit die Plünderer da waren, ist auch der Pfarrer nicht mehr derselbe. Weggeduckt sein altes Gesicht. Er klammert sich an seinen Stock, predigt mit zitternder Stimme. Und Johanna klammert sich an die Worte der Predigt wie an einen Faden. Die Worte aus der Bibel nehmen sie an der Hand. Dass der Faden ihr ja nicht zerreißt: gestern, heute, morgen. Sie braucht eine Sicherheit. Will geborgen sein. Worte bieten eine Stütze, auch wenn sie schwach ist. Aber es hilft nichts, Johanna leidet, denn Johanna wird jetzt von Gott geformt. Etwas drückt sich in ihr Wesen ein und sie merkt, dass sie da ein Loch hat, einen Abgrund, in den sie fällt. Was folgt, ist Dunkelheit, eine Unfähigkeit der Sprache, Trauer fliegt herbei und spielt Vogel, aber immerzu hängt Gottes Gesicht über ihm und leuchtet mit den Augen gegen die Finsternis. Der Vogel von damals, denkt Johanna, er war tot, aber niemand kann ihn hindern, die Flügel und Federn zu sammeln und Auferstehung zu erleben. Oder? Auch, wenn der Krieg ein Netz aus Angst über ihre Gedanken geworfen hat. Der Pfarrer indes wird immer trauriger, es bilden sich Rinnsale um seinen Mund. Er stirbt, einfach so, eines Tages. Das tut Johanna weh. Wie man aus einer Ferse Dornen zieht, löst sich ihr Schmerz der vergangenen Jahre, hindert sie am Alltag. Nicht einmal essen kann sie mehr, die Salate haben Rippen, das Fleisch lebt. Das Kauen knirscht zu laut.
»Iss!«, sagt aber Gott. »Du brauchst einen Körper!«
»Warum?«
»Kein Sinn kann sein ohne Sinne, Johanna! Und bald musst du los. Bald ruft die erste Schlacht!«
Sie seufzt. Gibt sich geschlagen.
»Ja.«
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