Er deutete ihr Schweigen falsch.
»Ich weiß, dass ich viele Fehler gemacht habe. Und ich bitte dich, verzeih mir. Ich will alles gutmachen. Aber bitte, bleib bei mir. Warum bist du überhaupt gegangen? Weil ich dir per Mail mitgeteilt habe, dass ich einen Tag länger bleiben werde? Und warum bist du zurückgekommen? Ich meine, es macht mich überglücklich, aber …«
Sie unterbrach ihn einfach.
»Werner, bei uns läuft schon lange etwas schief. Ich wollte es nur nicht wahrhaben, ich habe es immer verdrängt. Du hast dein Ding gemacht, ich habe funktioniert. Du hast kein einziges Versprechen gehalten, und du glaubtest, mit einem Blumenstrauß vom Flughafen sei alles wieder in Ordnung. Wer weiß, vermutlich hätte ich es weiter mitgemacht. Aber heute habe ich Rickys neuen Mieter kennengelernt, dieser Doktor Bredenbrock ist ein sehr angenehmer Mensch, und …«
Diesmal unterbrach er sie.
»Und in den hast du dich verliebt, mit dem wolltest du durchbrennen?«, erkundigte er sich eifersüchtig.
War man nicht eifersüchtig aus Liebe?
Inge war beinahe geneigt, sich zu freuen, doch dann wurde ihr bewusst, dass Werner bloß Angst hatte, an seinem bequemen, komfortablen Leben könnte sich etwas ändern.
»Rede keinen Unsinn«, sagte sie unwirsch, »nein, dieser Mann ist ein alleinerziehender Vater, er hat eine Tochter und einen Sohn. Und mit denen zieht er hierher, weil er glaubt, sein Leben und das der Kinder dann besser in den Griff zu bekommen als in der Großstadt. Er hatte eine ähnliche Position wie Fabian, die hat er aufgegeben. Er wird am Hohenborner Gymnasium als Lehrer arbeiten. Seine Frau hat ihn übrigens verlassen, weil sie sich an der Seite eines jüngeren Musikers verwirklichen wollte, ohne Rücksicht auf Mann und Kinder.«
Sie stand auf, holte sich ein Glas Mineralwasser, trank etwas, setzte sich wieder.
»Werner, diese Frau hat mich an dich erinnert. Du hast mich und die Kinder nicht wegen einer anderen Frau verlassen, doch du machst rücksichtslos dein Ding, du verreist, ohne es vorher mit mir abzusprechen. Du stellst mich einfach vor vollendete Tatsachen, und wenn du in deinem Arbeitszimmer bist, dann müssen wir mehr oder weniger auf Zehenspitzen durchs Haus laufen. Jetzt sind nur noch Pamela und ich hier, aber früher war das nervig und auch eine Zumutung für die Kinder.«
Es stimmte!
Er konnte ihr nicht einmal widersprechen!
Es war so im Hause Auerbach, und so war es immer gewesen. Wenn ihm etwas wichtig war, dann setzte er es durch. Und in der Vergangenheit war es auch vorgekommen, dass Inge sich auf einen Opernabend gefreut hatte, den er absagen musste, weil ihm etwas wichtiger erschienen war. Nicht absagen musste, korrigierte er sich sofort. Er hatte es aus rein egoistischen Gründen getan.
Was war er bloß für ein schrecklicher Mensch!
Er blickte sie beinahe Hilfe suchend an.
»Ich werde mich ändern, wirklich, und diesmal sage ich es nicht nur so daher, sondern ich meine es so.«
Sie antwortete nicht, und ihr Schweigen war für ihn schlimmer, als wenn sie jetzt eine Szene gemacht hätte.
Bei Krächen und heftigen Szenen erschöpfte man sich, war emotional so bewegt, dass man nicht mehr klar denken konnte. Es war für den anderen dann ein leichtes Spiel.
Inge blickte ihren Mann an, dann sagte sie leise: »Werner, solche Worte habe ich bereits unzählige Male gehört, und du hast nie etwas geändert.«
»Diesmal ist es anders«, beteuerte er.
Sie schüttelte den Kopf.
»Werner … Worte …, die will ich nicht mehr hören, beweise es. Die Begegnung mit Doktor Bredenbrock hat mir die Augen geöffnet. Mir wurde dann allerdings beizeiten klar, dass es überhaupt nichts bringt, davonzulaufen. Wir sind schließlich keine Teenies, die in der Flucht den Ausweg sehen. Nein, Werner. Ich bin zurückgekommen, weil ich mit dir eine Lösung der Probleme finden will. Wenn man so viele Jahre wie wir verheiratet ist, wenn man gemeinsame Kinder, ja sogar bereits Enkelkinder hat, da beendet man nicht das, das die meiste Zeit des Lebens ausmacht. Ich hätte früher etwas sagen müssen, ich hätte früher die Notbremse ziehen müssen.«
Sie trank etwas von ihrem Mineralwasser, stellte das Glas ab, blickte ihn erneut an.
»Werner, ich liebe dich, ich möchte weiterhin hier mit dir leben.«
Er atmete insgeheim auf.
»Inge, du bist doch auch mein Leben, ich liebe dich ebenfalls, kann ohne dich nicht sein. Es wird sich wirklich alles ändern. Aber sag mal, sollen wir jetzt nicht ein Glas Wein zusammen trinken? Außerdem …, ehrlich gesagt, habe ich Hunger, ich habe nur ein Käsebrot gegessen, das ist herzlich wenig, nicht wahr?«
Das konnte jetzt nicht wahr sein.
Er hatte nichts begriffen.
»Werner, glaubst du, dass ein Lippenbekenntnis genügt? Da muss mehr kommen, da musst du erst einmal beweisen, dass es dir wirklich ernst ist. Übrigens, ich werde erst einmal im Gästezimmer schlafen, und essen …, im Kühlschrank findest du auch noch Wurst. Es ist genügend Brot da. Wenn ich weiß, dass du daheim bist, werde ich natürlich auch wieder kochen. Für heute muss dir das reichen, was vorhanden ist.«
Sie stand auf.
»Inge, du kannst doch jetzt nicht einfach gehen. Was soll das mit dem Gästezimmer. Was sollen die Leute denken?«
Jetzt hätte sie beinahe gelacht.
»Die Leute blicken nicht in unser Schlafzimmer, im Übrigen schlafen viele Eheleute aus vielerlei Gründen getrennt. Ich werde es nicht an die große Glocke hängen, und warum soll Pamela nicht die Wahrheit erfahren? Aus der Vergangenheit müssen wir lernen, ich werde nicht noch einmal den Kopf in den Sand stecken, weil ich zu feige bin, die Wahrheit auszusprechen.«
»Inge, was hast du dir dabei gedacht. Da mache ich doch nicht mit.«
»Werner, es kommt nicht auf dich an, nicht darauf, was du willst oder nicht. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dass unsere Ehe das wird, was sie sein soll, nämlich eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Du hast dich lange genug selbst verwirklicht, das ist vorbei. Und, Werner, es ist mir ernst damit.«
Sie wandte sich ab, er wollte sie zurückhalten, doch ihm fielen keine Worte ein, mit denen er sie überzeugen konnte.
Im Freundes-, im Kollegenkreis hatte er leider viele Ehen scheitern sehen. Für ihn selbst wäre allein schon ein solcher Gedanke undenkbar gewesen, seine Inge, die war fest an seiner Seite.
Klar, das war sie auch. Und sie wollte auch an seiner Seite bleiben. Die Bedingungen hatten sich verändert. Und wenn er ehrlich war, dann hatte er großes Glück gehabt, dass er so viele Jahre lang sein eigenes Ding machen konnte.
Professor Auerbach war ratlos. Er, der für alles Lösungen hatte, fand keine für sein Privatleben. Das war ja auch nicht nötig gewesen. Es hatte auf seine Weise bestens funktioniert.
Kein gemeinsames Schlafzimmer mehr …
Werner Auerbach graute es davor, sich allein in das große Doppelbett legen zu müssen. Wie angenehm war es doch immer gewesen, Inge neben sich zu wissen, ihre Atemzüge zu hören …
Warum war er bloß diesen Tag länger geblieben und hatte dadurch eine Katastrophe ausgelöst. Wenn es sich wenigstens gelohnt hätte. Es war nicht wichtig gewesen, es hatte nur seine Eitelkeit befriedigt. Er hatte sich darin gesonnt, wie toll man ihn doch fand.
Wie hieß es doch?
Ja, richtig: »Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.«
Es war eine bittere Erkenntnis, doch die brachte ihn nicht weiter. Würden sie die Scherben wieder zusammenfügen können?
Ihm dämmerte die Erkenntnis, dass er dann jedoch etwas ändern musste, und das nicht nur verbal. Das