Ein Mahl im Rüstungssaale vereinigte die Eingeladenen. Der Saal führte den Namen von vier Rüstungen, die dort, je eine an jeder Wand, standen. Das Brautpaar nahm bei Tisch den mittleren Platz der einen Tafelseite ein, rechts davon saß Graf Ferdinand mit der Mutter des Bräutigams, links davon der Vater desselben mit Anne.
Anne hatte erklärt, die Anordnung sei ihr am liebsten, denn sie habe keine Lust, mit irgendeinem jungen Unverheirateten „zusammenzuhocken“. Die besäßen meist das Talent, sie grenzenlos zu langweilen.
Man saß in heiterster Stimmung beieinander, und nachdem Graf Ferdinand gesprochen und das Brautpaar beglückwünscht hatte, stieß alles mit den Kelchen an.
Anne huschte während des Durcheinanderredens und des Gläserklingens auf einen Wink des Vaters hinaus, den ‚Glücksbecher‘ zu holen, aus dem jedes junge Paar der Familie Zettingen-Willerstein bei Verlobung und Eheschließung einen Trunk tun mußte.
Sie schalt sich selbst, weshalb sie den Becher nicht schon bereitgestellt hatte — nun mußte sie erst hinüber in den alten Raum, der neben der kleinen Hauskapelle lag und früher die Sakristei gewesen war.
Sie huschte wie ein beschwingter schlanker Spukgeist den Gang hinunter.
Der langgestreckte Raum neben der Hauskapelle war unfreundlich und düster und man hatte hier allerlei Möbel und Dinge aufgestellt, die man in den sonstigen Zimmern nicht unterbringen konnte oder wollte. Schwere massige Schränke und dazu ein zierliches verschüchtertes Spinettchen. Stühle, durch deren gebrochenen Bezug das Futter schaute, und Bilder in invaliden Rahmen.
In mehreren Mauernischen standen, noch aus der Zeit, da hier die Sakristei gewesen, Heilige mit frommen, stillen Augen und Hirtenstäben in den Händen. Anne, die sonst gern hier weilte, hielt sich heute nicht auf. Weder für die alten Heiligen hatte sie einen Blick übrig, noch für die Sessel, über deren alte Polster sie sonst immer mit zärtlicher Hand zu streichen pflegte. Schnurstracks ging sie auf einen kleinen Schrank zu und öffnete ihn mit dem dazu passenden Schlüsselchen. Sie schlug die längliche Tür zurück, um in der nächsten Minute die Hände vor fassungslosem Schreck bewegungslos an den Seiten niedersinken zu lassen. — Der ‚Glücksbecher‘ stand nicht an seinem Platze, stand nicht da, wo er gestanden, solange sie von dem Vorhandensein des Bechers wußte.
Sie griff sich an die Stirn, sich gleichsam vergewissernd, daß sie nicht träume, dann aber begann sie eifrig zu suchen, tastete die paar Schrankbrettchen ab wie eine Blinde, um sich dann doch zu sagen: Der Becher ist nicht da! Vor ungefähr drei Wochen hatte sie ihn noch gesehen, an der Stelle gesehen, wo er immer zu stehen pflegte . .
Nein, länger als drei Wochen war das nicht her.
Röte und Blässe wechselten auf ihrem Gesichtchen, bis ihr einfiel, der Vater hatte den Becher wahrscheinlich schon geholt und ihn der Bequemlichkeit halber schon irgendwo im Rüstungssaal hingestellt.
Sie hatte sein Zeichen falsch verstanden.
Gott, wie töricht sie doch war.
Sie eilte, so rasch sie konnte, zurück, man hatte sie nicht vermißt, nur der Vater sah ihr wie fragend entgegen.
Sie schaute sich im Saale um, doch da sie den Becher nirgends erblickte, setzte sie sich wieder nieder. Man hielt noch immer Reden und stieß noch immer an.
Anne fand Gelegenheit, dem Vater ein paar Worte zuzuraunen.
Er schüttelte den Kopf.
„Der Becher muß da sein, es hat niemand an dem Schrank etwas zu suchen, und der Schlüssel dazu ist noch in deinem Besitz. Vielleicht hast du den Becher verkramt?“
„Das ist ausgeschlossen. Aber auch du hast einen Schlüssel dazu, Papa.“
„Ich habe ihn seit einer Ewigkeit nicht mehr benützt“, erklärte er hastig, und als man nach dem Essen aufstand, um sich in Gruppen in die anstoßenden Gemächer zu verteilen, suchten Vater und Tochter die ehemalige Sakristei auf.
Anne schlug die Schranktür weit zurück.
Der Graf stieß einen Fluch aus.
„Das ist eine verflixte Bummelei, Mädel. Niemand als du kann den Becher verkramt haben, wer weiß, wo du ihn in Gedanken untergebracht hast. Scheußlich, zu scheußlich, — der Glücksbecher gehört doch als notwendiges Requisit zu unseren Verlobungen.“
Anne ließ sich von dem barschen Tone nicht einschüchtern, den kannte sie zur Genüge, wußte auch, daß es nicht so schlimm gemeint war, wie es sich anhörte.
„Nein, Papa, ich verkramte den Becher nicht, vor ungefähr drei Wochen war ich zum letzten Male an dem Schränkchen, und damals befand er sich an seinem Platze. Heute in all dem Trubel vergaß ich, mich früher um die Sache zu kümmern, — aber schließlich was wäre dadurch, daß ich die Entdeckung bereits gestern abend gemacht hätte, anders gewesen?“ fuhr sie fort. „Ilse kann nun nicht aus dem sogenannten ‚Glücksbecher‘ trinken, er muß, ich kann es mir zwar nicht erklären wie, aber er muß gestohlen worden sein.“
„Jahrhunderte hat niemand daran gedacht, ihn zu stehlen“, gab der Graf heftig zurück. „Verschlampt ist er, liegt irgendwo, wo er nicht hingehört, weil junge Mädels die Gedanken nicht zusammen haben.“
Anne sagte ganz ruhig:
„Ich kann dir nur meine Worte von vorhin wiederholen.“
Da begann der Graf eine hastige Wanderung durch den langgestreckten Raum, seine Schritte hallten von den Wänden wider, und er redete dabei ununterbrochen und ärgerlich vor sich hin.
„Wer soll der Dieb sein, wer soll sich an dem Becher, nach dem sich noch keine gierige Hand ausstreckte, vergriffen haben. Teufel, daß so was geschehen kann! Dumm für Ilse. — Es heißt doch, der Becher bringe Brautleuten Glück — und sie hat doch Glück verdient, ebenso wie alle Zettingens, die vorher daraus tranken. — Dumme Geschichte.“
„Papa, die Gäste könnten uns vermissen“, erinnerte Anne den Grafen an seine Hausherrnpflichten.
Er brummte erst etwas in seinen kurzen, dunklen, erst von wenigen grauen Fäden durchzogenen Vollbart hinein und sagte dann ruhiger:
„Hast recht, Mädel, die Gäste können uns vermissen.“ Und nach einer kleinen Pause: „Von unseren Gästen kennen ja die wenigsten die Geschichte des Glücksbechers, und keinem Menschen wird es auffallen, wenn das Brautpaar nicht daraus trinkt, außer Ilse. Und die dürfte in der Erregung des heutigen Tages, trotz ihrer immer so auffällig zur Schau getragenen Besonnenheit, es vergessen. Wollen es wenigstens hoffen. Dann kommen wir heute um die Sache herum und morgen, — nun, morgen muß eben alles gründlich durchgekramt werden nach dem Ausreißer“, schloß er, jetzt wieder ein leichtes Lächeln in dem gesund gefärbten Gesicht.
Anne muß sich dabei bescheiden, was hätte sie auch anders tun sollen?
Aber sie wußte mit Bestimmtheit, da der Vater den Becher nicht von seinem Platz genommen, mußte er gestohlen worden sein. Sie fühlte es förmlich, der Becher, der alte Glücksbecher war fort.
Vater und Tochter mischten sich wieder unter die Gäste und Anne lachte und war so lustig, als es ihr möglich, aber ihr Denken irrte immer wieder von neuem ab und beschäftigte sich mit dem Becher.
Wo mochte er sein? Wessen Hand nahm ihn von seinem Platz?
Ilse dachte wirklich nicht mit einem einzigen Gedanken an den Becher. Man feierte die schöne junge Braut, darüber vergaß sie den Glücksbecher, dessen Geschichte sie doch ebenso kannte, wie sie alle Zettinger-Willersteins gekannt.
Am späten Abend reisten die ersten Gäste ab, am nächsten Vormittag die anderen. Da erst konnte Anne sich wieder mit dem Verschwinden des Bechers beschäftigen. Und am Morgen fiel es auch Ilse ein, sich daran zu erinnern.
„Weshalb haben Christian und ich nicht aus dem ‚Glücksbecher‘ getrunken?“ fragte sie etwas verstimmt. „Du