„Ich denke, sie hat einen messerscharfen Verstand. So, und jetzt wäre ein kleines Bierchen nicht das Falscheste.“
Fast gleichzeitig sahen sie sich in dem nicht sehr großen Raum mit der niedrigen Decke um, der vier Zweier- und zwei Vierertische beherbergte und eine Theke mit einer Reihe von Stühlen, deren Sitze in der Mitte abgewetzt waren.
Köpfe waren ihnen zugewandt und es gab ein paar Begrüßungsworte, allerdings nur an Jordan gerichtet, nicht an Julia. Auf sie richteten sich lediglich Blicke, die von Neugier über Spekulation bis hin zu offener Ablehnung reichten. Julia erfasste es, registrierte es und legte es fein säuberlich in ihrem Gehirn ab. Sie zählte fünf Personen, alles Männer. Zwei saßen an der Theke, drei an einem Tisch. Ihr Blick blieb an den dreien am Tisch hängen. Einer von ihnen war kräftig gebaut und gedrungen, das musste der Bürgermeister sein, Julia erinnerte sich, sein Gesicht auf einem Wahlplakat gesehen zu haben, der Zweite hatte große rote, abstehende Ohren, ihn kannte Julia nicht, aber er sah aus wie ein Bauer, und der Dritte verfügte über auffällig markante Züge.
Dieser dritte Mann sah genau in dem Moment auf, als Julia an ihm vorbeiging. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke und etwas in der Art, wie er sie musterte, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Das war ein Blick, den sie kannte. Ein Blick, den sie schon zu oft gesehen hatte. Das war der Blick eines Mannes, dessen Aggressivität unter der Oberfläche lauerte, jederzeit bereit hervorzubrechen. Jetzt zog er die Augenbrauen hoch, und die Art wie er dasaß, lässig, aber allzeit zum Angriff bereit, ließ Julia an ein ruhendes Raubtier denken. Er strahlte eine Gefahr aus, die ihr wie eine Windbö entgegenschlug.
Dann waren sie an dem Mann vorbei und trotzdem fühlte sie immer noch, wie sein durchdringender Blick in ihrem Rücken brannte.
Die Kneipentür ging ein zweites Mal auf und ein weiterer Mann kam herein. Ein großer und sehr dünner Mann. Er ließ den Blick in die Runde schweifen, und als er auf Julia fiel, verharrte er für einen Moment. Es sah aus, als könne er mit ihrem Gesicht nichts Rechtes anfangen, wüsste jedoch, dass er sie schon einmal irgendwo gesehen hatte. Dann wandte er sich ab, begab sich zur Theke und bestellte sich dort etwas zu trinken.
Pfarrer Jordan schien von all dem nichts zu bemerken. „Scheint, als seien Eva und Greger noch nicht da. Nun ja, sie kommen sicher gleich. Nehmen wir den Tisch dort drüben?“ Er deutete auf einen der Vierertische in der Ecke.
Julia nickte und folgte ihm. Am Tisch angekommen, wirkten die Stühle derart alt und mitgenommen, dass sie erst einmal argwöhnisch beobachtete, wie Jordan sich auf einen davon setzte. Als dieser nicht unter ihm zusammenbrach, nahm sie ebenfalls Platz.
Sie bestellten Bier und zwei Mal Kotelett mit Salzkartoffeln. „Hallo Paul, immer noch keine Bedienung gefunden?“, wollte Jordan vom Wirt wissen.
Der kräftige Mann mit der weißen Schürze schüttelte mürrisch den Kopf. „Kriegen Sie hier mal gutes Personal, Herr Pastor.“ Damit wandte er sich ab und schenkte den drei Männern am Nebentisch Schnaps nach.
Julia versuchte immer noch, Muskel um Muskel zu entspannen, aber ihr Blick blieb trotzdem wachsam und konzentriert. Mein Hirn läuft Amok, dachte sie bei sich. Liegt das am Stress, den ich empfinde? An der Angst, die ich vor diesem beschissenen Kaff habe?
„Fantasie ist gut für einen Polizisten“, hatte Wolfgang Lange einmal zu ihr gesagt, „aber zu viel davon kann auch schädlich sein.“
Trotzdem konnte Julia es nicht lassen. Sie warf einen weiteren verstohlenen Blick zum Nebentisch. „Was sind das für Männer?“, fragte sie. „Ich meine die drei am Nebentisch.“
„Oh, der Mann ganz links, das ist Wilhelm Raddatz, der Bürgermeister“, antwortete Jordan. „Der mit den großen Ohren, das ist Knut Hagen. Und der ganz rechts, das ist Eddie Winter. Der eine ist Bauer, dem anderen gehört die Bäckerei im Ort.“
Eddie Winter. Nun hatte Julia immerhin einen Namen zu dem Mann, dem sie von der ersten Sekunde an alles zutraute.
Jordan indessen ahnte nichts von ihren Gedanken. Er verschränkte die Hände ineinander und legte sie auf den Tisch. „Du verstehst immer noch nicht, wie man hier leben kann, nicht wahr?“ Das war eine rhetorische Frage, denn er redete sofort weiter. „Ich hingegen mochte schon immer die Schroffheit der Gegend und der Menschen. An einem Ort wie diesem beschränkt sich das Leben auf das Wesentliche. Übrigens ein ganz wunderbares Mittel gegen Selbstmitleid, man hat erst gar keine Zeit, über vieles nachzudenken. Aber natürlich wird den Menschen hier auch viel abverlangt. Ich glaube, die meisten würden selbst viel lieber in Hannover oder Hamburg oder sonst irgendwo leben, wenn da nicht die Wurzeln wären, die so tief in den Boden reichen, dass sie keine Wahl haben.“
Julia schüttelte den Kopf. „Jeder hat eine Wahl.“
„Vielleicht“, meinte Jordan. „Aber wollen nicht alle Kinder die Erwartungen ihrer Eltern erfüllen?“
„Und sind die meisten damit nicht überfordert?“
Einen Moment schwiegen sie, dann sagte Jordan: „Ich gehe nicht davon aus, dass du inzwischen verheiratet bist?“ Als er Julias Blick begegnete, einer Mischung aus Belustigung und Befremden, fügte er schnell hinzu: „Nein, natürlich nicht. Das war ja nie dein Lebensziel.“
Es folgte eine weitere Pause, in der man dem Pastor förmlich ansah, wie er darüber nachdachte, ob er die Themen Familienleben und persönliche Umstände noch weiter verfolgen sollte. Glücklicherweise kam im nächsten Moment der Wirt mit zwei Tellern und zwei Biergläsern an ihren Tisch.
Jordan senkte tief die Nase über den Teller und seufzte zufrieden auf. „Es riecht fantastisch.“
„Gut so.“ Der Wirt wandte sich an Julia. „Wo kommen Sie her? Stadt, oder?“
Sie nickte.
„War mal da.“ Naserümpfend kratzte der Wirt sich am Kopf. „In der Stadt, mein ich. Nicht meins. Voller Ausländer. Hier gibt’s keine von denen. Wollen die auch nicht hier haben.“
Julia, die sich nicht mit ihm unterhalten wollte, wandte sich demonstrativ Jordan zu. Erst als sie wieder alleine waren, meinte sie: „Mir scheint, Sie haben hier noch eine Menge zu tun, was die Nächstenliebe angeht.“
Jordan seufzte. „Ich weiß. Aber jetzt iss, Julia, sonst wird es kalt. Guten Appetit.“
Julia tat ihm den Gefallen, nahm ihr Besteck und aß ein paar Bissen, doch ihr Geschmackssinn schien eine Auszeit zu nehmen. Sie spürte die Konsistenz der Nahrung, das war aber auch schon alles. Mit Jordan an einem Tisch zu sitzen und zu essen, erinnerte sie an früher. Im Waisenhaus hatte er jeden Tag mit allen Kindern gemeinsam am Tisch gesessen, sich aber selten an irgendwelchem Geplänkel beteiligt. Er hatte einfach nur bei ihnen gesessen, gegessen und darauf geachtet, dass seine Schäfchen auch tatsächlich etwas zu sich nahmen. Nun, zumindest dazu konnte er sie heute nicht mehr zwingen. Nach einer Weile legte Julia das Besteck wieder beiseite und griff nach ihrem Bier.
Jordan sah auf. „Schmeckt es dir nicht?“
„Doch. Ich hab nur keinen Hunger.“
„Schade. Es ist köstlich. Und du solltest wirklich mehr essen, Julia. Du bist viel zu dünn. Noch dünner als damals.“
„Hmm“, machte sie, während er sich genussvoll ein weiteres Stück Kotelett in den Mund schob.
„Also, bitte erzähl von dir. Warum hast du bei der Polizei aufgehört?“
Julia sah auf. „Woher wissen Sie das?“
„Wolfgang Lange hat es mir erzählt.“
Natürlich. In Wittenrode sprach man miteinander und natürlich unterhielten sich auch Lange und der Pfarrer.
Wolfgang Lange war Julias Mentor bei der Polizei gewesen und hatte außerdem ihren Vater gut gekannt. Offenbar war er heute noch über ihren Werdegang informiert. Und das, obwohl sie sich schon ewig nicht mehr gesehen hatten.
„Sehr schade“,