Teufelsmord - Ein Fall für Julia Wagner: Band 1. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643060
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Oder hast du hier noch etwas zu erledigen?“

      Julia schüttelte den Kopf. Noch ein letztes Mal drang Paula von Jäckles Stimme in ihr Bewusstsein: „Wir müssen miteinander reden, Frau Wagner. Hören Sie? Es ist wichtig! Ich habe Ihnen etwas sehr Wichtiges mitzuteilen! Melden Sie sich bei mir!“ Dann nickte sie Jordan kurz zu, ehe sie im Haus verschwand.

      11. KAPITEL

      Stille Hoffnung, leise Drohung

      Seit über einer Stunde putzte Petra Hagen nun schon unglücklich die Küche. Sie stand so sehr neben sich, dass sie beinahe vergaß, das Abendessen rechtzeitig in den Ofen zu schieben. Gott sei Dank ist er noch in der Kneipe, dachte sie bei sich und sah ihn vor sich, den grobschlächtigen Mann, der am Tresen saß und sich betrank, wie er es immer tat. Ihren Vater, Knut Hagen.

      Sie versuchte sich zur Ordnung zu rufen, zur Ruhe zu kommen, indem sie ganz langsam durch die Nase atmete.

      „Du musst nicht tun, was er dir sagt. Du bist erwachsen.“

      Worte, an die Petra sich klammern wollte. Aber so einfach war es leider nicht. Sie spürte, wie es ihr in den Zähnen wehtat, wenn sie an ihren Vater dachte. Man mochte allen anderen etwas vormachen können, sich selbst etwas vormachen konnte man nicht.

      „Petra, die Fliege“, das war sie. Immer unauffällig, wie die sprichwörtliche Fliege an der Wand, die zwar alles hört, der man aber keinen Blick schenkt.

      Bei den Hagens fand ohnehin niemand Geschmack an unnötigen Gesprächen. Schon gar nicht Petras Vater, das Familienoberhaupt, das niemals in seinem Leben weiter als vom Hof bis zur Kneipe gekommen war. Verschlossen wie ein Geldtresor, das war er, und wen er übersah, der existierte nicht für ihn. Auch ein Wittenroder Talent, das nicht erlernt werden konnte.

      Wenn Petra als Kind geweint hatte, dann meinte ihr Vater, dass sie das gefälligst in ihrem Zimmer tun sollte. Vor anderen mache man sich mit dem Geheule nur lächerlich. Petra wunderte sich, dass ihre Eltern zu den „anderen“ zählten. Denn wenn ihre Eltern die „anderen“ waren, wer gehörte dann zur Familie? Aber sie hatte die Lektion gelernt. Sie hatte nichts vergessen, besaß ein gutes Gedächtnis. Ein ausgezeichnetes sogar.

      Noch heute erinnerte sie sich an eine Weihnachtsfeier in der Schule. Damals war sie acht Jahre alt gewesen und ihre Eltern erlaubten es ihr nicht, daran teilzunehmen. Es gäbe genug Arbeit auf dem Hof, meinte Knut Hagen, und Petra hatte sich schon damit abgefunden, als das Telefon klingelte und ihre Klassenlehrerin Frau Baakes anrief. Ohne sich auf eine Diskussion einzulassen, kündigte sie an, sie werde das Kind um 14:00 Uhr abholen. Und erschien dann auch tatsächlich um die besagte Zeit. Weder ihr Vater noch ihre Mutter legten sich mit der resoluten Lehrerin an. Sie wechselten lediglich ein paar Blicke.

      Erstaunlich, dass Frau Baakes sich so für sie eingesetzt hatte, fand Petra noch heute, denn schüchtern und wenig selbstbewusst wie sie nun mal war, fand sie – selbst nach langem Nachdenken – noch heute keinen Grund, warum jemand sie mögen sollte. Sie empfand sich selbst als farblos, was sie auch tatsächlich war. Zu blass, zu dünn, die Augen wässrig, und zu all dem mangelte es Petra an Fantasie und Lebensfreude – was daran liegen mochte, dass es in ihrem bisherigen Leben nur wenig Freude gegeben hatte.

      Ihre Mutter war gestorben, als sie zehn Jahre alt war, und in den Jahren darauf wurde ihr Vater immer launischer, tyrannischer, selbstsüchtiger. Was immer sie für ihn tat, es wurde kritisiert oder gar nicht erst beachtet.

      So wurde das Leben außerhalb Wittenrodes mehr und mehr zu einer Fiktion für Petra. Unwirklich. Unerreichbar. Sie sah immer schlechter aus, genau genommen geradezu leichenhaft, was ihrem Vater nicht auffiel, dafür aber Margot, der Dorfältesten, bei einem der wenigen Male, die sie sich im Ort begegneten. Die Alte befand, dass das Mädchen etwas mehr Spaß bräuchte, aber Knut Hagen befand, dass seine Tochter weiß Gott genug Spaß hätte.

      So begann Petra irgendwann an Flucht zu denken. Ein Zimmer oder eine kleine Wohnung in sicherer Entfernung vom Hof ihres Vaters, irgendwo in der Stadt, das wär’s gewesen. Aber so etwas erforderte Mut und noch mehr Durchsetzungsvermögen. Über beides verfügte Petra nicht und trotzdem hatte sie an einem Abend, bei einem der unzähligen schweigsamen Abendessen, gewagt, es auszusprechen. Und wenn sie hundert Jahre alt werden würde, was sie sich nicht wünschte, sie würde diesen Abend nicht vergessen.

      „Ich denke darüber nach, wegzugehen und eine Ausbildung zu machen“, hatte sie gesagt.

      Mit einer einzigen Bewegung hatte Knut Hagen daraufhin seinen Teller zur Seite gewischt, so heftig, dass er vom Tisch gefallen und auf dem Boden zersplittert war. „Du gehst nirgendwo hin.“ Dann war er aufgestanden und verschwunden und Petra war allein in der Küche sitzen geblieben. In diesem Moment wünschte sie sich zum ersten Mal, wenn auch nur für einen kurzen Moment, dass ihr Vater sterben würde. Dieser Gedanke war jedoch so schnell wieder verflogen, wie er gekommen war. Und wahrscheinlich hätte sie es sogar dabei belassen, wenn, ja wenn …

      „Vielleicht kann ich eines Tages ja doch noch glücklich werden“, flüsterte sie sich selbst zu. „Vielleicht gibt es ja doch Gerechtigkeit.“

      Sie spürte, wie ihre Augen feucht wurden, aber sie verbot es sich zu weinen, flüsterte nur noch einmal: „Vielleicht.“

      Knut Hagen ahnte nichts von dem, was in seiner Tochter vorging. Selbst wenn er es geahnt hätte, es hätte ihn nicht interessiert. Er saß, einem Rausch gefährlich nahe, mit Wilhelm Raddatz an einem der Tische im „Eck“, als Eddie Winter die Kneipe betrat.

      Der Bürgermeister hob eine Hand. „Hier!“

      Eddie nickte, kam zu ihnen und nahm auf einem der freien Stühle Platz.

      „Trink was“, sagte Hagen und klopfte ihm dabei auf die Schulter. „Bist noch viel zu nüchtern.“

      „Was für dich zur Abwechslung auch mal nicht schlecht wäre“, bemerkte Raddatz mit düsterem Blick in seine Richtung.

      „Ach was.“ Hagen winkte ab und gab dem Wirt ein Zeichen.

      Keine zwei Minuten später legte Eddie eine Hand um ein kühles Bierglas und grinste. „Auf dich, Knut, und darauf, dass du die Schnapsbrennereien auf den Beinen hältst.“

      „Die schon, nur sich selbst nicht“, bemerkte Raddatz ungnädig. „Hat einer von euch beiden die Evelyn in letzter Zeit gesehen?“

      „Evelyn Jakob?“ Eddie kippte eiskaltes Bier die Kehle hinunter und stellte das Glas dann zurück auf den Tisch. „Nein. Wüsst auch nicht, was ich ihr sagen soll.“

      Raddatz warf ihm einen finsteren Blick zu. „Beileid, vielleicht?“

      „Scheiße, das alles“, sagte Hagen und versuchte sich zu konzentrieren. „Hab gehört, sie geht seit dem Mord an ihrem Jürgen nicht mehr aus dem Haus.“

      „Was soll das scheiß Getue?“ Eddie schaukelte leicht mit dem Stuhl vor und zurück. „Der Jürgen ist tot, das ist blöd. Aber Kerstin hat den Mord gestanden und das ist doch das Beste, was uns passieren konnte, oder nicht?“

      Raddatz’ Glas stockte auf halbem Weg zum Mund. „Wie meinst du das?“

      „Wie ich’s gesagt hab.“

      „Dann lass es und sag es nicht.“

      „Ja, ja.“ Eddie lächelte kühl. „Ich weiß schon, Wilhelm.“

      Einen Moment entstand Schweigen am Tisch. Dann griff der Bürgermeister nach seiner Pfeife und begann sie langsam und bedächtig zu stopfen. „Was weißt du, Eddie?“

      „Dass die Kerstin dir gefallen hat. Mehr als das. Und durchaus verständlich, denn immerhin, hübsch war sie ja. Kein Wunder, dass du die Finger nicht von ihr lassen konntest.“

      „Eddie, hör auf“, brummte Hagen dazwischen.

      „Wieso? Stimmt’s etwa nicht?“ Eddies Blick lag unverwandt auf Raddatz. „Stimmt’s nicht, dass du dachtest, du könntest sie mit deinem Geld beeindrucken, Wilhelm? Hat nur leider nicht geklappt. Sie hat dich abblitzen