Er war jedoch soweit Soldat, sich in fremde Kompetenzen nicht einzumischen. Er wartete also auf die Kommission, die hier früher oder später erscheinen mußte, und konzentrierte sich lieber darauf, daß wenigstens seine Festung in jeder Hinsicht ein Gegenpol zu Kolatscheks Ghetto war. Diesen Kameraden von gegenüber, der zum Glück einen niedrigeren Rang hatte, mied er, wo er nur konnte. Den früher gemeinsam gefeierten Saufgelagen beider Kommandanturen setzte er bei seinem Dienstantritt mit dem Hinweis ein Ende, sie schwächten den Sicherheitsgrad beider Einheiten. Die Folgen seiner Verwundung erlaubten es ihm, private Einladungen auszuschlagen, und so begegnete er seinem Kontrahenten nur bei gelegentlichen Lagebesprechungen in Leideneritz, was ihm vollauf genügte.
Kolatschek war ihm vor allem deshalb suspekt, weil er zu jener Gruppe führender Parteigenossen gehörte, die ihn anwiderte. Zu der zählten Feiglinge, die unter gewissen Bedingungen zu gern zu Henkersknechten wurden. Kolatschek war einst österreichischer Sozialist gewesen, der nach dem Bürgerkrieg von 1934 als Schlachthofarbeiter im tschechoslowakischen Exil lebte. Als ihn am 15. März 1939 deutsche Motoren weckten, begann er sich aufzuführen, als hätte er Zeit seines Lebens bloß auf den Führer gewartet. Dem Kampf gegen das Judentum schloß er sich, so wurde erzählt, mit solcher Vehemenz an, daß er sogar alte Kämpfer in den Schatten stellte, bis er es schließlich zum Chef des größten Ghettos im Protektorat gebracht hatte.
Für den Festungskommandanten blieb Kolatschek auch in seiner hohen Funktion, die er vermutlich über Leichen erklommen hatte, ein Schlächter. Das Vieh ersetzten ihm die Juden. Über seine Potenz bei Vergewaltigungen waren Legenden im Umlauf. Die Karrieren solcher Kolatscheks waren nach Kleinburgers Maßstäben ein Schandfleck auf dem Banner der Bewegung. Ein Gedanke tröstete ihn: Daß es in ein paar Tagen zehn Jahre her sein wird, seit der Führer in Bad Wiessee die ähnlich demoralisierte Bande Röhms und seiner Spießgesellen zerschmetterte.
Und diesen Kerl sollte er um einen Gefallen bitten?
Nein, er kann das nicht, und Gertrud muß es begreifen. Christine ahnt ohnehin noch nichts von diesem Einfall ihrer Mutter ...
Es macht ihn froh, daß sie den ganzen Sommer über hierbleiben wird, in Sicherheit und unter seinem und Gertruds Einfluß. Morgen wird sie schon achtzehn! Plötzlich berührt ihn die Vorstellung, was sie in Berlin ganz allein hatte durchmachen und verkraften müssen.
Er sieht sie ständig vor sich, wie sie ihm am letzten gemeinsamen Abend in der Wohnung am Anhalter Bahnhof zum Grammophon eine Improvisation zur Musik des letzten «Tristan»-Akts getanzt hatte. Bis heute spürt er die Beklommenheit, als er ihre damals noch kindlich zarten Bewegungen beobachtete, daß er und Gertrud dieses Kind zurückließen und all den Gefahren des Erwachsenwerdens und des Kriegs aussetzten. Aber Gertrud sagte so entschlossen, wie er es gewöhnlich selbst zu tun pflegte.
«Ich habe dich geheiratet!»
Für ihn hatte sie die Tochter geopfert, und Christine ermöglichte es ihnen, denkt er dankbar, mit ihrer stillen Tapferkeit. Gibt es irgend etwas auf der Welt, was er den beiden verweigern möchte, wenn er auch nur einen Teil dessen ersetzen könnte, was er ihnen nahm? Weshalb will er eigentlich nicht verstehen, daß das Vorhaben, zu dem er vor einer Woche schließlich ja gesagt hatte, später allen seinen Leuten hinter diesen Mauern etwas Freude bringen sollte?
Durch den grünen Laubtunnel gelangt er direkt zum mächtigen Eingangstor der Festung, wo auch sein Dienstzimmer liegt. Er erwidert den korrekten Gruß der Wache, betritt den Vorraum seines Zimmers und befiehlt dem Unteroffizier vom Dienst, der stramme Haltung angenommen hat.
«Verbinden Sie mich mit Sturmbannführer Kolatschek!»
IV
Zur gleichen Zeit
Gertrud kämmt ihr langes dichtes Haar und betrachtet dabei jede einzelne Strähne. Nicht einmal die unbarmherzige Morgensonne entdeckt im Schwarz ein Grau. Ein Leben lang wecken diese Haare bei ihr ängstliche Verwunderung. Einst waren sie der einzige Reichtum des mageren, verstörten Bayernmädels. Nie hatte sie erfahren, wer ihr Vater war, es kam ihr erst viel später zu Ohren, daß es ein junger Adeliger sein sollte, der dann über Jahre hinweg das Schweigen der Landarbeiterin mit einer bescheidenen Rente lohnte.
Als die wilde Inflation der Nachkriegszeit das Gut des leichtsinnigen Barons verschlungen hatte und seine Unterstützung nunmehr ausblieb, zog die Mutter samt Tochter der warme Sog Münchens wie frierende Fliegen an. Der schlaue Wirt, den sie um die gewöhnlichste Arbeit baten, schätzte den Wert von Gertruds Haarpracht im Kampf um die wenigen noch zahlungsfähigen Gäste richtig ein. Die Mutter als Küchenhilfe und am Waschtrog garantierte, daß er die reizvolle Tochter in der Schenke behielt. Dank ihrer konnte er bald auch den Garten aufmachen. Und in jenem Garten hatten diese Haare Karl Kleinburger bezaubert und hielten ihn bis heute gefesselt.
Jetzt wallen sie zwischen den noch immer festen Brüsten beinahe zu den Knien herab. Wie so oft denkt sie: Was haben die Haarspitzen nicht schon alles gesehen! Um mehr als zehn Zentimeter werden sie jedes Jahr länger. Jetzt flicht sie die Flut zu einem Zopf und seufzt. Ihr Haar kommt ihr oft wie ein Seil vor, das sie an das Jahr 1938 bindet, das Jahr des bejubelten Anschlusses, in dem später auch das Sudetenland dank des Führers genialer Taktik kampflos heim ins Reich kam. Das ganze Deutschland glich für sie einem Ast voll praller Knospen, die allesamt wundersame Blüten hervorbrachten ... und auch Gertrud wollte nicht abseits stehen!
Bei der Geburt der Tochter wäre sie fast gestorben, und die Ärzte verboten ihr strikt ein weiteres Kind. Sie versuchte, Karl zu überreden, wußte, wie sehr er sich ein Karlchen wünschte, aber er ließ es nicht zu. Nur einmal im Leben sagte er, er habe dem Reich genug gegeben, als daß er vielleicht wegen eines einzigen Soldaten auch sie verlieren sollte. In diesem berauschenden Jahr der Hoffnungen überlistete sie ihn jedoch und wurde erneut schwanger. Sie überstand die Geburt ziemlich gut; der Junge jedoch kam tot zur Welt. Jetzt ließ sie die Haare über alle Längen wachsen, als wollte sie sich dadurch von jener Hoffnung noch nicht trennen.
Aus den geflochtenen Zöpfen bildet sie auf dem Kopf ein Gebäude. Sie spürt das Gewicht aller dieser Jahre, gerät darunter fast ins Wanken. Freilich glaubt sie an den Sieg Deutschlands, und der Führer wie auch Karl sind ihr dafür Garanten, aber ihre Seele, die immer so hell und gütig war und erfreut über jedes Geschenk des Lebens, wird seit Karls schrecklicher Verstümmelung immer bedrückter.
Ihr Mann irrt nicht: Sie war zu Gott zurückgekehrt. Vor Karl hält sie den wirklichen Charakter und die Stärke dieser Heimkehr verborgen, weil sie spürt, daß es ein Ausdruck von Angst vor der Zukunft ist und damit auch von Mißtrauen gegenüber allem, woran sie glauben will. Aber dem ist doch gar nicht so, berichtigt sie sich selbst; sie glaubt doch nach wie vor gleich fest an den Sieg und bittet Gott allein darum, das Heil der gerechten Sache nicht mit dem Verlust ihrer Lieben bezahlen zu müssen. Sie seufzt und verläßt das Bad.
Auf dem Herd in der Küche dampft schwach eine riesige Kupferkanne mit Wasser. Gertrud holt den im Backrohr versteckten Schlüssel hervor – so hatte sie es von der Mutter, Gott hab sie selig, gelernt – und schließt die Speisekammer auf. Auf zwei Silbertabletts thronen ein hoher Marmorkuchen und eine ausladende Sachertorte nebeneinander. Nach ihrer Heirat hörte Gertrud auf, zudringlichen Gästen Maßkrüge zu servieren, und half statt dessen bei einem Konditor aus, auch er, ein heimlicher Anhänger der Partei. Mit dem Fingernagel kratzt sie nun ein winziges Bröckchen von der Torte ab, kostet mit geschlossenen Augen. Sie ist zufrieden. Sie nimmt den Kuchen mit und schließt die Speisekammer ab.
Sie tut den Schlüssel in sein Versteck zurück, zuckert die duftende Marmorkuppel und trägt sie ins Speisezimmer. Es liegt auf der anderen Seite des breiten Ganges. Der Gang schneidet die Etage und auch die Wohnung in zwei Teile. Das Herrenhaus ist nur dem Namen nach herrschaftlich, diente