Tanz- und Liebesstunde. Pavel Kohout. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Pavel Kohout
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711461440
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Mannes hatte sich in Trunkenheit auf der Treppe das Genick gebrochen.

      Sie ahnte, daß Karli hierher kommandiert worden war, um die Belegschaft eines Augiasstalls in eine vorbildliche Eliteeinheit des Führers zu verwandeln, und dabei wollte sie ihm behilflich sein. Das war ihm natürlich gelungen, noch bevor der Lastwagen aus Berlin die Sachen brachte, auf die er gut hätte verzichten können. Bereits in den ersten sieben Tagen, als er Tag und Nacht wie ein Geist in der Küche, der Kantine, den Lagerräumen, in den Zellen und auf den Außenarbeitsstätten der Gefangenen, auf den Wachtürmen sowie in den Schlafstätten von Mannschaft und Unteroffizieren auftauchte und nebenbei von den Wällen aus, selbst unsichtbar, mit dem Feldstecher jede Bewegung in allen Höfen beobachtete, stellte er siebzehn Männer für die Front frei. Am achten Tag hätte auch die strengste Kontrolle nicht die geringste Laschheit feststellen können.

      Gertrud, die sich aus eigenem Antrieb um die hier lebenden Frauen zu kümmern begann, erfaßte sofort, daß hier nicht ein leidenschaftliches Verlangen, dem kämpfenden Vaterland nützlich zu sein, die Ursache für raschen Erfolg war, sondern vielmehr reine Angst. Sie versuchte deshalb, auch den Frauen ein paar der kleinen Freuden des Lebens zu vermitteln, die sie mit ihrem Mann genoß. Die ursprüngliche Einrichtung des Herrenhauses, das irgendeiner tschechoslowakischen Militärverwaltung gehörte, war teils verschwunden, teils verkommen. Die Frauen der Berufssoldaten, die zum größten Teil in den Baracken beim Tor wohnten, teilten die tristen Verhältnisse der Männer und verdarben ihnen die ohnehin schon miserable Laune nur noch mehr.

      Als die Möbel aus der Berliner Wohnung ankamen, war der Kommandant verblüfft über die Wirkung. Das erste Kaffeekränzchen, zu dem Gertrud alle zwanzig Frauen seiner Untergebenen eingeladen hatte, kam einer Mustermesse gleich. In den nächsten Wochen wurde die Festung Ziel von Militärlastern und Möbelwagen, die heranschafften, was die einstweilig verlassenen Wohnungen in der Heimat hergaben, was Eltern und Verwandte beisteuerten, die Altmöbelhändler und die Wehrmachtslager, wo man billig Sachen aus Kriegsbeute erstehen konnte. Mit den Stücken von zu Hause schien auch familiärer Geist Einzug zu halten. Die Frauen, Staublappen schwingend und Kissen stickend, wie sie es bei Gertrud bewundert hatten, gaben ihren Männern die Hoffnung wieder, ihr grausames Handwerk würde nicht ewig dauern.

      Ein Volltreffer war Gertruds Idee mit der Schule. In der Festung lebten zwei Dutzend Kinder zwischen sechs und elf, die erst danach auf Internatsschulen kommen konnten, sofern im Reich noch welche die Bombennächte überstanden. Mit den Sprößlingen der Offiziere und Beamten im nahen Ghetto fuhren sie täglich in die Kreisstadt Leideneritz, wo sich ihrer an die fünfzig in einer Klasse drängelten.

      Die erste Dame der Festung wartete nicht ab, bis die zuständige Kommandantur ihren Vorschlag billigte oder eher ablehnte. Als sie von Köpcke, Karlis Fahrer, erfuhr, seine Schwester sei Lehrerin, eine Kriegsbraut, die ihren Mann auf dem Balkan einen Tag früher verloren hatte, als sie ihm in Mannheim durch Ferntrauung verbunden worden war – diesem Schicksalsschlag trotzte sie mit der Entscheidung, die Trauung als vollzogen zu betrachten –, nutzte Gertrud augenblicklich den Umstand, daß seit kurzem auch Familienangehörige Gefallener hier wohnen durften. Und als die Mütter sahen, daß die schwarzgekleidete Kriegswitwe, durchaus imstande, eine anspruchsvolle Einklassenschule zu leiten, außerdem noch Klavier-, Geigen- und Flötenunterricht gab, legten sie gern das Geld für ihren Unterhalt zusammen. Schließlich gab sogar das deutsche Schulamt im Protektorat seine Zustimmung und einen Zuschuß. Daß die Gattin des Kommandanten, deren Tochter in Berlin studierte, all das organisierte und gemeinsam mit ihnen dafür aufkam, steigerte ihre Beliebtheit. So genoß sie in den Augen der Frauen einen Rang, vergleichbar dem ihres Gatten.

      Der Kommandant verstand gut, was Gertruds Tätigkeit für seine eigene bedeutete, und ihr war klar, daß er es wußte, auch wenn er ihr kaum einmal anders als mit einem flüchtigen Kopfnicken dankte. Sie fragte nie nach seinem Dienst, das kam für sie als Frau eines deutschen Offiziers gar nicht in Frage. Von selbst erwähnte er seine Aufgaben nur, wenn sie entscheidend Interessen der Familie berührten. Dieses Mal aber erschöpften sie ihn zusehends, denn er hatte bei jedem Schritt und jeder Geste mit den Folgen seiner Verstümmelung zu kämpfen.

      Nicht einmal jetzt, als er sich neben sie ins breite Ehebett legt, erlaubt er ihr, ihm die beiden Prothesen abzunehmen. Er erledigt das, den Rücken ihr zugewandt, wie jeden Abend so geschickt selbst, daß sie auch nach einem Jahr deren Mechanismus noch nicht begriff. Auch dieser Rücksichtnahme wegen liebt sie ihn. Zugleich ist das aber der Ausdruck seiner Unerbittlichkeit, die er sich und anderen abverlangt, und Gertrud wird manchmal ganz bang bei dem Gedanken, diese Härte könnte jemals auch sie treffen. Zum Glück beweist ihr aber jede neue schweigende Umarmung, wie leidenschaftlich er sie begehrt.

      Heute ist es genau eine Woche her, daß sie den Mut faßte, ihn zu bitten, einen Weg zu finden, wie man Christine aus dem jetzt nahezu täglich bombardierten Berlin hierherbekommen könnte. Er beugte sich gerade zum linken Schenkel hinab, als er ihre Frage mit einer anderen beantwortete.

      «Wann ist Schulschluß?»

      «In drei Wochen ...»

      «Wie kann sie dann früher weg?»

      «Ich hab’ dir doch ihren Brief vorgelesen. Man hat sie bereits benotet, vorsichtshalber ...»

      «Aha ... Warum läßt man sie dann nicht von sich aus heim?»

      «Angeblich, um kein schlechtes Beispiel zu geben. Deshalb hält man die Kinder dort, obwohl sie so gut wie keinen Unterricht mehr haben. Begreifst du das?»

      «Ja.»

      «Karli, wenn sie wenigstens Verwundete pflegen dürften, oder was weiß ich, aber die haben Angst, weil es dort so viele Prominentenkinder gibt, und so läßt man sie lieber Tag und Nacht im Keller hocken. Das findest du richtig?»

      Er war fertig und schlüpfte so geschickt unter die Decke, daß der halbleere Ärmel und das halbleere Hosenbein vom vollen nicht zu unterscheiden waren. Mit der gesunden Rechten knipste er das Nachttischlämpchen an, nahm Gustav Schwabs «Sagen des Klassischen Altertums» zur Hand und öffnete das dicke, schwere Buch, wo er unterbrochen hatte, mit dem Daumen, mit dem er geschickt umblättern konnte. Dabei schaute er Gertrud an.

      «Nein, ich würde sie natürlich zu Verwundeten schicken oder Trümmer wegräumen lassen. Wenn das ganze Volk unter totalem Einsatz aller Kräfte um Sein oder Nichtsein kämpft, gelten andere Gesetze als in normalen Zeiten. Ich meine auch das Gesetz der Ehre, das vor allen Dingen.»

      Er begriff, wie sehr er sie verletzte und wollte sie aufmuntern.

      «Glaub ans Schicksal, Trudl, das war mir in Rußland gnädig und hat euch beide rechtzeitig vom Anhalter Bahnhof weggebracht!»

      Sie überhörte es.

      «Karli, deine Ehre war immer auch die meine, das kannst du nicht anders sagen. Aber Christine schreibt, ein gutes Drittel ihrer Mitschülerinnen ist bereits abgefahren. Immerhin sind es doch zukünftige Mütter, ohne die Deutschland seine Verluste nicht ersetzen kann. Welcher Ehre würde sie wohl dienen, wenn sie in einem Keller verschüttet ist? Wenn du schon nicht als Vater fühlen willst, dann denk wenigstens über deine Pflichten als Deutscher nach!»

      Er hatte die aufgeschlagene Seite vor Augen, auf der es um die zweite Niederlage der Griechen vor Troja ging, blickte aber Gertrud an, als entdeckte er etwas Neues an ihr. Auf einmal klappte er den Band zu und legte ihn auf den Nachttisch.

      «Du magst recht haben. Vielleicht sind es nur noch die bekannten Krämpfe von Fanatikern, die höchstwahrscheinlich vielmehr käuflich sind. Christine nützt Deutschland als Mutter am meisten, da bin ich deiner Meinung. Aber was soll sie denn hier anfangen?»

      «Sie wäre einfach bei uns ...»

      «Denk mal daran, wie es dir die ersten Tage hier erging! Ich bin Soldat, erfülle hier meine Pflicht, trotzdem sind meine Gefühle nicht abgestorben. Ich bin ein Mensch geblieben, für den nicht einmal eine gerechte Maßnahme an Grausamkeit verloren hat. Bist du hier glücklich?»

      «Ja. Weil ich bei dir sein kann.»

      «Weich nicht aus! Du bist bei mir, sorgst für mich, für die Frauen und die Schule, du solltest zufrieden sein und