Die Soldatenfrauen, die die Baracken auf dem äußeren Hof bewohnten und die Innenhöfe nicht betreten durften, hießen Gertrud wie eine Heilige willkommen. Nachdem ihr Mann der Hurerei und Sauferei schlagartig Einhalt geboten hatte, erhielten sie von ihr die weibliche Würde zurück. Einmal in der Woche durften sie das Herrenhaus besuchen und sich ihre bis dahin trübseligen Unterkünfte nach ihrem Geschmack, ganz wie zu Hause herrichten. Gertrud hatte längst begriffen, daß Karl sich gerade durch seine Vorzüge auch erbitterte Feinde schuf, glaubte jedoch, daß zumindest diese Frauen ihm zutiefst dankbar waren – für sie.
Das Dachgeschoß des Herrenhauses, in dem einst Ordonnanzen gehaust hatten, ließ Gertrud für hohe Gäste einrichten und setzte zutreffend voraus, daß sie dem Aufenthalt in Leideneritz den Vorrang geben würden; dort harrten ihrer erlesenere Genüsse als in dieser steinernen Burg. Im hübschesten Zimmer stellte sie das alte Bett ihrer Tochter auf. Hierher kam sie, um heimlich zu beten ... Die rechte Seite des ersten Geschosses hatte sie ihnen beiden zugedacht: Für Karl einen privaten Arbeitsraum, daran schloß sich ein riesiges Bad, zu dem ein ehemaliges Büro umgebaut wurde, das eheliche Schlafzimmer, aus dem man in den familiären Speiseraum, in eine geräumige Küche und die nicht minder große Speisekammer gelangte.
Die sechs Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges hatte sie durch Herausnehmen der Zwischenwände zu einem einzigen Raum verbinden lassen, der mit vier schweren, dunkelroten Vorhängen je nach Bedarf verkleinert oder vergrößert werden konnte. Neben einem beliebig geräumigen Eßzimmer für Besuche war auf diese Weise eine geeignete Räumlichkeit für ihre gesellschaftlichen Betätigungen entstanden: Jeden Mittwoch kamen die Frauen aus der Festung zur Kaffeestunde hierher, die man mit Geplauder und Strikken verbrachte; letztes Weihnachten hatte sie hier ein unvergeßliches Festmahl für die Familien aller Offiziere und Unteroffiziere aufgetischt.
Gestern hatte sie den vorderen Vorhang zugezogen, um in gemütlicher Atmosphäre alles Notwendige für das Frühstück zu neunt vorzubereiten. Das festliche Geschirr, aus der übernommenen Berliner Wohnung rechtzeitig vor den Bomben gerettet, glänzt hier bereits in voller Meißener Schönheit, der Kuchen, den sie jetzt mitten auf den Tisch stellt, krönt das Werk. Dann tritt Gertrud auf den Gang hinaus, steigt die Steintreppe hinauf, öffnet die Tür zum Dachgeschoß und geht zum mittleren Zimmer, das erste Mal ohne Wehmut: Der barmherzige Gott hatte ihre inständigen Gebete erhört.
Vorsichtig klopft sie an. Niemand antwortet. Leise betritt sie die Stube. Das Fenster geht als einziges im Haus nach Westen, der nahe Festungswall bewahrt hier immer noch die Dämmerung. Christine liegt auf dem Rücken, beide Hände neben dem Kopf, ein Akt wehrloser Ergebenheit. Erst jetzt sieht die Mutter, daß ihr Kind in diesem Jahr zur Frau geworden ist. Sie nimmt sich vor, der Tochter durch Liebe alles zurückzugeben, was sie durch ihr langes Alleinsein in Berlin entbehren mußte.
Sie will die Schlafende streicheln, aber schon bei der ersten Berührung erschrickt sie, als der regungslose Körper emporschnellt. Schlanke Hände legen sich um ihren Hals, warme Lippen bedecken ihr Gesicht mit kleinen Küssen, und eine fröhliche Stimme ruft, wie sie es vor vielen, vielen Jahren von ihr gelernt hatte.
«Guten Morgen, Geburtstagskind!»
Glücksgefühl vertreibt den Schreck. Als Gertrud die Tochter gestern nach einem Jahr wiedersah, nahm sie sie zunächst nur als bloße Einbildung wahr, wie sie sich bei ihren heimlichen Gebeten oft einstellte. Karl hatte den ganzen Abend nur kurze Fragen gestellt, Christine ausführlich geantwortet und Gertrud den Sinn der Worte eigentlich nicht verstanden, nur ihre Musik vernommen. Nun hatte sie beide wieder bei sich, die Säulen ihres Lebens, und verstand nicht mehr, wie sie ohne eine von ihnen je hatte leben können.
Doch war sie – so war ihr bewußt, und sie prägte sich das immer wieder ein – eine deutsche Frau, ihr Volk kämpfte auf Leben und Tod gegen die Kräfte des Bösen, die ihre Welt, die von den Ariern geschaffene Kultur zerstören wollten, und sie konnte ihm in diesem schicksalsschweren Kampf einzig und allein durch Entsagen helfen. Dafür belohnte Gott sie jetzt mit einem Geschenk, von dem Millionen Volksgenossen nicht einmal zu träumen wagten. Sie durfte mit einem angebeteten Gatten zusammensein, den seine Verwundungen noch begehrenswerter machten, und nun auch mit der heißgeliebten Tochter, die das Leben und Treiben im Berlin dieser gefährlichen Jahre nicht um ihre kindliche Reinheit gebracht hatten.
Sie beginnt zu weinen. Jetzt erschrickt Christine.
«Was ist passiert?»
Doch die Tränen schwemmen nur die angesammelte Angst all der vielen Monate hinweg, die niemals ausgesprochen werden durfte. Gertrud schluchzt.
«Ich bin ... dir so dankbar ...»
«Wofür ...? Mami, wofür?»
«Daß du’s geblieben bist ... mein Mädelchen ...»
«Das bin ich doch immer gewesen. Deins und Vaters!»
«Ja, aber ... da warst du klein und bei uns ... jetzt bist du schon erwachsen und warst so lange allein ...»
«Ja und ...?»
«Bist du ...?»
«Was ...?»
Vertrauten sie denn nicht immer einander wie zwei gleichaltrige Freundinnen? Gertrud bringt es über die Lippen.
«Du hast noch keinen ... du bist noch Jungfrau, nicht wahr?»
«Ja ...»
«Ich habe ... also, ich habe nicht geglaubt, daß du es dort durchhalten kannst!»
«Warum denn nicht?»
«Mir hat gereicht, was du vor Vater erzählt hast.»
«Darüber hab’ ich doch kein Wort ...»
«Vor allem hast du mit keinem Wort auch nur eine deiner Klassenkameradinnen erwähnt. Das heißt, daß du unter ihnen keine Freundin hast. Täusche ich mich da?»
«Nein.»
«Und ist das nicht der Grund? Ich meine, bist du so einsam, weil du immer noch ...?»
Jetzt umarmt sie die Tochter, und Christine schmiegt sich an die Mutter wie damals in der Wohnung am Anhalter Bahnhof, als Gewitter sie nachts aufgeweckt hatten, und später, als sie im Keller des Hauses nächtelang die ersten Luftangriffe überstanden, die sie damals eher aufregten als erschreckten. Die Eltern hatte sie nie belogen. Beim Vater wagte sie es nicht, die Mutter war immer ihr Beichtstuhl gewesen. Auch jetzt sagt sie ihr die Wahrheit.
«Ja.»
«Alle anderen ... schlafen schon mit Männern?»
«Ja.»
«Beneidest du sie?»
Die Tochter antwortet nicht. Gertrud streichelt sie, und erst dabei entdecken ihre Hände, was die weitgeschnittene Bluse gestern den Augen verborgen hatte. Christine, vor einem Jahr noch knabenhaft schlank, hat Brüste, fast wie sie. Diese Veränderung rührt sie von neuem.
«Ich verstehe dich, Tinchen. Mit achtzehn dachte ich, ich verbrenne. Aber da war der Krieg schon vorbei, ich hatte Zeit zu warten und auszuwählen. Für dich muß alles hundertmal schwieriger sein, nicht wahr?»
Christine flüstert kaum hörbar.
«Ich hab’ Angst, Mami ...»
«Wovor ...? Daß ... du es nicht erwarten würdest?»
Der Mädchenkopf auf ihrer Schulter bebt vor Zustimmung.
«Sehnst du dich so sehr danach ...?»
Die gleiche stumme Antwort.
«Mein Gott, warum ... worauf wartest du dann?»
Christine hebt den Kopf und schaut die Mutter an, verblüfft und mißtrauisch.