Ihr fällt eine Bemerkung des Vaters beim Abendessen ein über die Grenze des privaten Sektors der Festung, an der eine streng bewachte Zone beginnt. Noch hat sie jedoch die kleinen Gestalten der fleißigen Schnitter vor Augen. Die Wälle aus Maria Theresias Zeiten können doch heutzutage keinen militärischen Wert mehr haben – und falls doch, dann wird sie sich eben einen Fußbreit davon zum Geburtstag wünschen.
Ein Gefühl von Glückseligkeit erfüllt sie: Wenn sie übermorgen aufwacht, wird sie achtzehn sein. Diese Zahl, obwohl sie ihr eigentlich nur die Tür zu Filmen für Erwachsene öffnet, erscheint ihr schon lange wie der Schlüssel zu einer Schatzkammer. Von deren Kleinodien hat sie nur verschwommene Vorstellungen, aber sie ist fest überzeugt, mit achtzehn werde ihr etwas ganz Großes begegnen. Sie lächelt in die Dunkelheit hinaus und zählt, wie sie es gewohnt ist, die Waggons, die wie mit eisernem Stempel die nächstliegenden Schienenverbindungen markieren. Siebenundvierzig. Sie addiert die beiden Ziffern: Sieben und vier sind elf. Sie addiert weiter: Eins und eins ist zwei. Ihre Glückszahl!
Der unsichtbare Zug verstummt endlich, doch über die nächtliche Stille, die nun wieder vom knarrenden Zirpen erfüllt ist, legt sich ein neues Geräusch. Das Gästezimmer befindet sich an der Schmalseite des Hauses. Erst jetzt bemerkt Christine, daß über der hohen Sträuchergruppe fast am Fuß des Festungswalls ein Turm ragt. Er sieht wie eine hohe, breit gespreizte Leiter aus, auf der ganz oben ein Brett balanciert. Eine Gestalt klettert die Sprossen empor.
Der Himmel ist sternenübersät, aber mondlos. Entweder ist der Mond noch nicht aufgegangen, oder er kreist auf einer anderen Bahn, oder, Christine weiß es nicht genau, es ist gerade Neumond. Irgendwo auf einem anderen Wall, den sie von ihrem Fenster aus nicht sehen kann, müssen starke Lampen strahlen. Ehe sie eine Erklärung dafür findet – aus Berlin kennt sie kein strengeres Gesetz als die Verdunkelung – erkennt sie über ein halbes Hundert Meter hinweg hellblondes Haar und auch die hohe, schlanke Figur. Ohne Zweifel – er!
Als er sich auf das Brett schwingt, wird noch deutlicher, wie groß er ist. Seine Haut schimmert vor der dunklen Steinmauer. Plötzlich weiß Christine, er ist nackt. Sie erzittert. Ihre Hände, noch immer regungslos gekreuzt, beginnen sich zu bewegen. Sie streichelt leicht ihre Brüste und erlebt, wie sie sich spannen. Eine seltsame Empfindung durchfährt ihren Unterleib. Sie kriegt Angst, der Schmerz könnte von neuem ausbrechen, spürt aber nur ein ungewohntes Vibrieren. Es erregt sie genauso wie einst der geheimnisvoll phosphoreszierende Stab, mit dem Mutters Friseuse ihr die Kopfhaut massierte.
Der junge Mann betritt das schwankende Brett. Fast hätte sie aufgeschrien vor Angst, er werde umkippen und in die Tiefe stürzen. Sie sieht ihn sich federnd vorwärtsbewegen, wie sie es vor dem Krieg im Circus Busch bei den Lipizzanern bewunderte, und sie ertappt sich bei dem Gedanken, er könnte wirklich fliegen. Er nähert sich nun dem Rand des Brettes, das auf jeden seiner Schritte mit immer stärkerem Schwingen reagiert, geht auf die Zehenspitzen, stößt sich ab, steigt kerzengerade nach oben, knickt aber plötzlich in der Hüfte ab und fällt durchgestreckt senkrecht nach unten. Christine hört, wie der Körper den Wasserspiegel bricht.
Der Druck auf der Brust zwingt sie, die Arme zu öffnen, und im gedämpften Widerschein der unsichtbaren Lampen sieht sie auf der Haut dunkle Abdrücke ihrer Finger. Die Angstsekunde hat das wohlige Gefühl weggeschwemmt. Aber die Spannung in ihr bleibt. Sie lauscht dem gleichmäßigen Platschen des Wassers, nur dann unterbrochen, wenn der Schwimmer wendet. Sie zählt – sie zählt insgeheim, weil sie sich für ihre Abergläubigkeit schämt, alles auf der Welt – kommt immer wieder auf elf. Sie selbst schwimmt Wettkämpfe und vermutet dann, daß hinter der Wand aus Sträuchern ein Fünfundzwanzig-Meter-Becken liegen muß.
Christine will auf das Fensterbrett steigen, vielleicht sieht sie dann mehr. Mit einem Knie schon auf dem Sims, erstarrt sie. Jemand schleicht unter dem Fenster entlang, offenbar bedacht, ungesehen zu bleiben. Statt den Weg zu nehmen, der sich vom Herrenhaus zum Schwimmbecken um die Sträucher windet, zieht die Gestalt geradenwegs dorthin, mitten durchs aufgeschossene Gras, das noch auf die Sense wartet. Eine Frau in einer Art geblümtem Kimono. Er paßt sich der Umgebung besser an als jeder Tarnumhang.
Christine beobachtet, wie die Frau den Stoff rafft, damit der Tau ihn nicht benetzt, und es sieht beinahe so aus, als schwebte sie. Bei den Sträuchern hält sie inne, schaut zurück zum Herrenhaus. Christine zwingt sich, nicht ins Zimmer zurückzuspringen. Regungslos verharrt sie auf dem Knie, sie vertraut dem dunklen Hintergrund. Und wenn sie sich auch täuscht: Hier ist jetzt ihr Zuhause, und sie hatte schon vorher am Fenster gestanden! Die Unbekannte löst sich in den Sträuchern auf.
Kurz darauf verstummt das Peitschen des Wassers. Lautes Plätschern verrät, daß sich der Schwimmer auf den Beckenrand geschwungen hat. Das Lärmen der Grillen schafft eine Schallwand, die entfernte Worte nicht durchbrechen. Was sollte es dort schon zu reden geben? Er ist nackt, und sie hatte auch nicht wie eine Nonne ausgesehen. Christine versucht, sich die Zärtlichkeiten vorzustellen, die da getauscht werden, doch nichts von den Beschreibungen, die sie im Dunkel des Internatsschlafraums hatte anhören müssen, will zu ihm passen. Wie liebt wohl ein SS-Engel? Ach, zum Teufel mit ihm!
Sie kennt ihn ja gar nicht, und auf der Fahrt hatte er es geschafft, daß sie vor Langeweile eingeschlafen war. Sie kennt auch die Frau nicht und hat nicht das geringste Recht, Anspruch auf ihn zu erheben, noch weniger einen Grund, sich seinetwegen zu grämen. Doch das geahnte Bild des Paars, das sich ganz in ihrer Nähe umarmt, lockt wieder ihre Zweifel herbei. Christine leidet.
Selbstmitleid überkommt sie, und sie springt ins Zimmer zurück. Am liebsten würde sie das Fenster zuknallen, damit die beiden wenigstens erschreckten, dann die Vorhänge zuziehen und sich in ihr gutes altes Bett, dessen Häßlichkeit ihr plötzlich ganz vertraut vorkommt, hineinkuscheln, mit jenem noch immer vertrauten Freund, der ihr von klein auf Scham, Ängste und Unsicherheiten nimmt – ein Buch. Im Bücherschrank des Vaters hatte sie nach dem Essen die «Jugend» von Max Halbe entdeckt, die sie schon mit vierzehn lesen durfte. Damals war sie in ohnmächtige Wut auf den erbarmungslosen Kaplan geraten, was der Vater vielleicht sogar erreichen wollte. Wie wird es ihr jetzt damit ergehen?
Da sieht sie: Lautlos eilt ein hoher Schatten den Weg vom Becken zum Haus entlang, um den Hals ein Handtuch, um die Lenden eine enge Badehose, deren Farbe mit der sonnengebräunten Haut verschmilzt und für die optische Täuschung sorgte. Auf dem Kopf trägt er seine Mütze, in der Hand die schwarze Uniform und die Stiefel. Hinter der Hausecke rasselt ein Schlüsselbund, eine schwere Tür fällt zu. Sie wohnt mit ihm unter dem selben Dach!
Sie verharrt noch ein paar Minuten. Die Frau kommt nicht. Nun erscheint plötzlich der Mond, unvergleichlich größer und klarer als in Berlin, satt orangenfarben. Zufrieden sieht Christine, daß ihm zum Vollmond noch eine schmale Sichel fehlt, dünn wie Apfelsinenschale. Die hebt er sich zu ihrem Geburtstag auf!
Mit einemmal sind die trüben Gedanken weg. Sie will jetzt nicht mehr lesen und entschließt sich, bei offenem Fenster zu schlafen. Sie legt sich auf die Bettdecke und betrachtet in der hellen Finsternis ihren Körper. Er braucht das Sonnenbad, beschließt sie, hat er erst seine mehlige Blässe verloren, würde er gar nicht so übel aussehen. Als sie die Augen schließt, vernimmt sie leise Töne. Was? Eine Orgel mit «Lili Marleen» ...? Dann glaubt sie, eine Mundharmonika zu hören. Mit ihrem letzten Gedanken nimmt sie wahr, daß sie trotz geschlossener Augen lächelt. Bin ich denn etwa glücklich? wundert sie sich. Aber warum ...?
II
Zur gleichen Zeit
Gertrud zieht sich aus. Die schweren Mahagonimöbel in diesem steinernen Haus mit den kleinen Fenstern engen auch sie ein. Schon damals, als sie ihnen samt der Wohnung am Anhalter Bahnhof zugeteilt wurden, hatte sie Karl vorgeschlagen, das Zeug zu verkaufen und sich dafür eine modernere Einrichtung aus Metall anzuschaffen. Ihr überkorrekter Gatte jedoch sah in dem Bestand Reichseigentum, das ihm nur von Dienst wegen zur Verfügung gestellt wurde. Dieses Argument benutzte dann sie