Die jungen Männer in den feschen Uniformen aller Waffengattungen oder in modischen Knickerbockern ziviler Dandys, die ihre «Verlobten» oder «Cousinen» in geliehenen Autos zu geliehenen Wohnungen brachten, reizten Christine ebenso wie die Direktorin. Ihr war unbegreiflich, daß sich bisher noch kein einziger auch nur im geringsten für sie interessiert hatte. Und wenn die Mädchen in den verdunkelten Schlafsälen voreinander die Künste ihrer Liebhaber in allen Details priesen und die Gefühle, die diese in ihnen weckten, beschrieben, kam sie sich gedemütigt vor. Ihr wurde oft so übel, daß sie aufstehen und hinausgehen mußte.
Im Gemeinschaftswaschraum ließ sie dann das Nachthemd fallen und betrachtete sich im Spiegel. Obwohl sie sich für ganz hübsch hielt und hörte, wie so manche Kameradin das von ihr behauptete, fand sie immer weniger Gefallen an sich selbst, bis ihr Körper sie fast anekelte. Die unvermeidlichen Begleitumstände ihrer Körperlichkeit erschienen ihr wie ein Gebrechen, von dem allein sie gezeichnet war, und alle Welt wußte davon.
Dabei war die Sache doch ganz einfach: Ihre zunehmende Ratlosigkeit und Gereiztheit schufen eine Barriere, die sie von Vertraulichkeiten im voraus ausschloß, und der Nimbus des Vaters zwang die möglichen Verehrer noch dazu zur Vorsicht. Sie fand darin aber nur ihren Unwert bestätigt.
Im Mai dieses Jahres erlebte Berlin den bisher schlimmsten Luftangriff. Den Meldungen des Oberkommandos der Wehrmacht zufolge waren daran mehr als zweitausend anglo-amerikanische Bomber beteiligt. Das Stadtzentrum hörte auf zu existieren. Zwar gingen auch diesmal an der Peripherie in unmittelbarer Nähe des Internats keine Bomben nieder, doch hingen dichter Qualm und der Gestank nach schmorendem Asphalt und versengtem Menschenfleisch bald wie schwerer Nebel auch über dem Villenviertel. In den Stunden, die sie im Luftschutzkeller verbringen mußte, tat Christine, als schliefe sie, in Wirklichkeit aber betete sie verzweifelt.
Der Gott von Familie und Internat war selbstverständlich der Führer. Seine historische Mission, das natürliche Recht des deutschen Volkes auf Weltherrschaft zu verwirklichen, wozu die Vorsehung ihn berufen hatte, wurde tagtäglich durch das Blut von Tausenden von Feinden bestätigt. Diese Nacht im Luftschutzkeller aber, der nur noch fragwürdigen Schutz bot, wenn auch bei entfernteren Detonationen Staub und Mörtel von der Decke rieselten, schien den Führer der Deutschen zu überführen, weder unfehlbar noch unsterblich zu sein. In ihrer Todesangst wandte sich Christine seinem allmächtigen Vorgänger zu.
Die Eltern waren evangelisch und hatten auch die Tochter taufen lassen, im Jahre sechsundzwanzig war die Bewegung in dieser Hinsicht noch recht liberal und ließ positives Christentum gelten. Bald nach der Machtübernahme geriet der Vater in Rage, als die Kirche in der Sternstunde der Nation eine vage Position einnahm, ja sogar Rücksicht gegenüber den offenkundigen Volksfeinden verlangte. Die Familie trat geschlossen aus der Kirche aus.
Religionsstunden hatte Christine nur in der ersten und zweiten Klasse besucht. Bleibenden Eindruck hinterließ allerdings bei ihr die Geschichte vom Schöpfer, dem Allmächtigen, der für die Menschheit seinen einzigen Sohn opferte, um ihn dann vom Grabe auferstehen zu lassen und zu sich in den Himmel zu holen. Wann immer sie eine Statue oder ein Gemälde des Gekreuzigten sah, wuchs in ihr mit den Jahren ein sonderbares, ehrfurchtsvolles Vertrauen zu ihm heran. Hatte man ihr nicht bei der Taufe die weibliche Form seines Namens gegeben? Als nun das Internatsgebäude in seinen Grundfesten erzitterte, daß man meinte, es müßte jeden Augenblick wie eine Kinderburg aus Sand zusammenfallen, betete Christine zum Vater jenes Christus, er möge auch sie aus diesem Kellergrab erlösen. Sie wußte nicht, was sie mit dem Himmel anfangen sollte, und bat ihn flehentlich, sie den Eltern zurückzugeben.
Davon wagte sie dem eigenen Vater natürlich kein Wort zu schreiben, auch der Mutter nicht, weil sie wußte, sie würde bei ihm ein gutes Wort für die Tochter einlegen. Weder mit Zärtlichkeiten noch mit Kümmernissen hatte sie ihn jemals belästigt. Ihr Leben lang hatte sie sich innigst danach gesehnt, er möge sie ebenso schätzen wie sie ihn. Als ihr die «Kuh» einige Tage darauf verlegen mitteilte, sie müsse auf höhere Weisung das Schuljahr vorzeitig beenden und den Eltern ins Protektorat folgen, glaubte Christine fest, dieser Gott sei auch allwissend. Sie gelobte, die Botschaft der Barmherzigkeit an den ersten Nächsten weiterzugeben, der sie darum bitten würde.
Der erste Nächste wartete beim Pförtner und bat sie um Koffer und Tasche. In den Gesichtern der Kameradinnen, die sie zum Abschied begleiteten, las sie die neidvolle Bestätigung ihres eigenen Eindrucks, wohl nie zuvor einen so schönen jungen Mann gesehen zu haben. Der Offizier in der schwarzen Uniform, dessen Name sie in der Aufregung überhört hatte, mußte mindestens einsneunzig sein, er hatte eine Taille wie eine Ballettänzerin. Daß er trotzdem nicht weiblich wirkte, verdankte er den breiten Schultern, den kräftigen, wenn auch schmalen Händen und vor allem seinem Kopf.
Während die feine faltenlose Haut seine Jugend verriet und die hellblauen Augen die durch nichts getrübte Seele eines Kindes widerzuspiegeln schienen, war sein Gesicht eine Mustersammlung all dessen, was man üblicherweise als männlich bezeichnete. Die Stirn und die ausdrucksvollen Wangenknochen zeigten Intellekt an, Kiefer und Kinn strahlten Energie aus. Feines blondes Gekräusel lugte unter der Mütze hervor. Das Symbol des Todes darauf verlieh seiner Erscheinung eine unirdische Wirkung. Christine erschien es, als habe der liebe Gott ihr einen seiner Cherubim gesandt.
Er bat sie um Verständnis, daß er als Wagenkommandant vorn sitzen müsse, und das war alles. Die belanglosen Fragen, mit denen sie anfangs ein Gespräch anzuknüpfen versuchte, beantwortete er einsilbig. Vaters Fahrer fühlte sich indes verpflichtet, sie mit einem Schwall von Nichtigkeiten zu überschütten, und sein Geschwätz war genauso langweilig wie die Landschaft rechts und links der Autobahn. Beleidigt beschloß sie so zu tun, als schliefe sie. Und schließlich fiel sie, von all den Eindrücken mitgenommen, in einen echten, tiefen Schlaf.
Jetzt spürt sie, wie der warme Duft und die eintönige Melodie der Grillen sie wieder betäuben. Gleichzeitig nimmt sie wahr, daß ihr der Bauch nicht mehr weh tut, der gerade heute morgen zu schmerzen anfing. Eine Woche zu früh, wahrscheinlich vor lauter Aufregung. Im letzten Moment ging sie ins Haus zurück, um sich noch rasch zu versorgen. Sie kannte sich und hatte keine Ahnung, wie sie die lange Fahrt überleben würde. An der Pförtnerloge jedoch stand der blonde Offizier, und Christine wird jetzt mit einem Mal klar, daß sie von jenem Augenblick an die Schmerzen los war.
Schrill pfeift eine Lokomotive, und gleichzeitig ertönt das Stakkato der Dampfstöße. Irgendwo ganz in ihrer Nähe kommt ein schwerbeladener Zug in Fahrt. Ihre Berliner Wohnung hatte am Anhalter Bahnhof gelegen. Der Vormieter, ein Rechtsanwalt, Jude wahrscheinlich, der aus gutem Grund rechtzeitig auf und davon war, hatte sie mit Holztäfelung und gepolsterten Türen ausstaffieren lassen und mit massiven Möbeln eingerichtet. Christine fühlte sich durch all das eingeengt, verliebte sich aber bald schon in den Ausblick von ihrem Balkon auf die Schienenstränge, die sich aus der riesigen Halle wanden. Züge schläferten sie ein und weckten sie auf. Eine sie immer wieder von neuem erregende Erscheinung waren die Perlenketten der leuchtenden Waggonfenster. Sie schienen von dem über der Großstadt sich wölbenden Nachthimmel herabzuschweben, um dann wieder zu ihm aufzusteigen. Im Krieg erloschen die Lichter.
Als sie im letzten Vorkriegsjahr auch in der Oberprima lauter Einsen hatte, machte ihr der Vater ein wunderbares Geschenk: Sie durfte mit der Mutter in die Ferien an der See bis Stralsund Erster Klasse fahren. Der schwere Duft von Plüsch und das helle Klirren der silbernen Tabletts, auf denen ihnen ein befrackter Ober das Frühstück im Coupé servierte, begleiteten sie bis heute.
Voriges Jahr sollten die Mädchen einen Aufsatz schreiben, wie sie sich den Frieden vorstellten. Die Palette der Wünsche, inspiriert meist von den Schilderungen der Eltern, reichte vom Diner im Pariser Maxim über ein Feuerwerk am Berliner Funkturm bis zu einer Modenschau mit Astrachan-Pelzen in Moskau. Christine erntete Erfolg für ihre Idee, in einem nicht mehr verdunkelten Zug durch das wieder strahlende Europa fahren zu können. Erster, versteht sich. Jeder Zug schien ihr der Bote einer herrlichen weiten Welt zu sein, die ihrer harrte.
Jetzt war diese Welt von Fronten zerrissen, ihren Balkon gab es nicht mehr, und Christine fand nicht den Mut, sich die Trümmer ihres einstigen Zuhause anzuschauen.